Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Achtung, Kunst
Verspielt: Fotografischer Kinderkram von Reinhard Matz
  Wer wollte behaupten, Kindern fehle es an öffentlicher Präsenz: In der Werbung, im Film wie im Fernsehen haben sie sich etabliert; Kinderarbeit wie Kinderprostitution sind öffentlicher Ächtung sicher, und im Alltag treffen wir sie sowieso allerorten. Gleichwohl nimmt die jetzt in Berlin-Pankow in der "Brotfabrik"-Galerie installierte Ausstellung "Verspielt – Fotografien für Kinder" von Reinhard Matz eine Ausnahmestellung ein. Sie zeigt die fotografisch inszenierten Ergebnisse einer empathischen Reflexion darüber, was heute zum Bewußtseinshorizont eines Kleinkindes gehört. Inhaltlich knüpft Reinhard Matz an das von Edward Steichen 1930 herausgegebene Buch "Das erste Bilderbuch. Alltägliche Dinge für Kleinkinder" an (The First Picture Book – Everyday Things for Babies). Auf Anregung seiner Tochter, der Reformpädagogin Mary Steichen-Calderone, und in Kooperation mit ihr fotografierte Steichen seinerzeit im Stil der Neuen Sachlichkeit, wie er schrieb, "eine Reihe von realistischen Stilleben aller jener Dinge, die ein kleines Kind als seine Welt erkennen muß".

Daß sich die Kinderwelt in den vergangenen siebzig Jahren verändert hat, wer würde das bestreiten. Deshalb ging es Reinhard Matz weniger um ein simples Nachstellen der Steichen-Bilder als vielmehr um den veränderten, für heute zeitgemäßen kindlichen Umgang mit den Dingen. Aus einem einfachen Arrangement mit einem Eßbesteck wurde beispielsweise ein Besuch bei McDonald‘s, dem in einer zweiten Einstellung das Erscheinungsbild nach der "Essensschlacht" mit dem Restmüll folgt. Aus der Idee des ersten Kontakts mit dem Telefon wird bei Reinhard Matz ein Plastikkorb, in dem sich vom Kindertelefon über den Gameboy bis zum Walkman die geballte Kommunikationselektronik auftürmt. Lego ersetzt die Bauklötze, Plastik tritt an die Stelle von Stoff und anderen natürlichen Materialien, Popcorn hat den Keks verdrängt, und – im Wandel der Zeiten nicht minder von Gewicht – statt in Schwarzweiß erscheint alles in modernster Farbfotografie, perfekt in Stillife-Technik aufgenommen.

Präsentiert werden die Bilder – anders als im parallel existierenden Buch – in zeitgerechten Lichtboxen unterschiedlicher Formate, die an Straßen- und Außenwerbung erinnern. Als bewußte Inszenierung verteilen sich die Lichtboxen in den Galerieräumen, deutlich an verschlungenen Stromkabeln hängend, wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer. Alles folgt intellektuellem Kalkül, selbst die immer wieder aufblitzende Ironie. Nichts ist zufällig anwesend. Es ist bei aller Rationalität und Theoretisch-Konzeptionellem dennoch wohl das heiterste Projekt von Reinhard Matz, der sich zuletzt vor allem mit seinem Buch und seiner Ausstellung "Die unsichtbaren Lager – Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken" sowie durch seinen Preisgewinn beim Wettbewerb für das Berliner Holocaust-Mahnmal einen Namen gemacht hat.

Ließen Steichens Fotografien, die in einem Buch-Reprint in der Ausstellung zu sehen sind, noch die Tradition der pädagogisch-erzieherischen Kinderfibeln erkennen, geht den Bildern von Reinhard Matz das Pädagogische restlos ab. Seine Bilder verweisen auf Gebrauch, Konsum, Plastik-glätte, internationale Standards und Produkte: Das Kind erscheint als unverzichtbarer Konsument und als Teil globaler Entwicklungen. Zugleich zeigt sich das Infantile als ein Phänomen, dessen Grenzen sich offenbar mehr und mehr mit denen des Erwachsenseins verwischen.

Steichen berichtete über die Wirkung eines seiner Bilder, auf dem ein Waschbecken und ein Glas mit einer Zahnbürste zu sehen war. Eine Mutter schrieb ihm, ihr Kind habe beim Anblick des Bildes nach der Bürste gegriffen, die Gebärde des Zähneputzens gemacht und danach in die Waschschüssel auf dem Foto gespuckt. Das sagt etwas über den Mediengebrauch aus. Den von damals. Und heute? Wird ein Kind, das von der Mutterbrust an mit den technischen Bildmedien aufwächst, noch Abbild und Wirklichkeit verwechseln? Und werden sich die Kleinkinder (naiv?) und die Erwachsenen (intellektuell?) gleichermaßen an diesen Fotografien erfreuen?

In der "Brotfabrik"-Galerie, die mit dieser Ausstellung erfreulicherweise wieder als Fotografie-Ort reetabliert worden ist, kann sich jeder als Proband prüfen, als Kind wie als Erwachsener.

ENNO KAUFHOLD
(Mit Abbildung in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, 24. 4. 2001)