Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Vom Bauklotz zum Bildschirm
  Kindheitsatmosphäre darstellen und dabei auf die Ablichtung der Kinder verzichten – das versuchte als einer der Ersten seiner Zunft der amerikanische Fotograf Edward Steichen. Sein Fotoband von 1930 widmete sich typischen Gegenständen, die zur Erfahrungswelt eines amerikanischen Stadtkindes der damaligen Zeit gehörten: gebuttertes Fruhstücksbrot, Teddy mit einem Ball, Bauklötze, Gitterbett oder Strandspielzeug. Steichens Buch "The First Picture Book. Everyday Things for Babies", das er mit Hilfe seiner pädagogisch geschulten Tochter herausgab, macht heutigen Betrachtern die schlichten Dinge von damals sinnlich nachvollziehbar. Die Bilder kommen dem Betrachter so nah, dass er das Material zu fühlen, den dazugehörigen Geruch zu spüren glaubt. Der Kölner Fotograf Reinhard Matz versuchte nun, die Idee seines unter Fotosammlern zur Kultfigur avancierten Vorgängers auf die Gegenwart zu übertragen.
Das Buch mit dem Titel "Verspielt" (Edition Braus) hält heutige Kindheit fotografisch fest. Für Steichens spartanisches Butterbrot steht jetzt eine Vielzahl bunter Süßigkeiten oder McChicken-Portionen, Plastikmonster ersetzen den abgewetzten Teddybären. Auf fühlbares Holz, Leder, Metall folgte Plastik, oft als bloße Verschalung von elektronischem Spielzeug, Gameboys oder Walkmen. Oberfläche, in den Dreißigern noch natürliches Material mit Abnutzungserscheinungen, ist heute vor allem Bildschirm. Ein Unterschied ist auch bei nüchterner Betrachtung nicht zu übersehen: Plastikspielzeug von heute kann keine Patina erwerben, man muss es irgendwann einfach in den Müll werfen.

(Ohne Autorenangabe, mit zwei Abbildungen in "Der Spiegel", Hamburg, 2.10.2000)