Reinhard Matz
Fahrt in den Tag, Fahrt in die Nacht
  In Hamburg, in der Isestraße, fährt die U-Bahn als Hochbahn. Aus den Wohnungen im zweiten Stock der angrenzenden Häuser kann man in die vorbeifahrenden Waggons sehen. Die Bahn fährt allerdings zu schnell, um individuelle Besonderheiten zu registrieren. Die Wahrnehmung bleibt flüchtig, obwohl die Entfernung zu den Passagieren verblüffend klein ist, ein Eindruck von Nähe, die keine ist. Ein Kontakt, der über den des flüchtigen Blicks hinausginge, ist nicht möglich. Beide Seiten verharren in sich und ihrem Raum, wohnen und fahren, anonym und ohne jedes Interesse aneinander.

Die Fotografie vermag die flüchtige Wahrnehmung zu festigen. Jetzt haben die Passagiere Gesichter mit bestimmbaren Ausdrücken, Gesten werden erkennbar, soziale Situationen und Einordnungen lassen sich unterscheiden ... Jedoch die wechselseitige Anonymität und Ferne werden dadurch nur umso massiver erfahrbar, die Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit wird auf die Spitze getrieben.

Ich habe Aufnahmen am Morgen, wenn die Menschen zur Arbeit fahren, und am Abend, wenn sie zurückkommen, gemacht. Die fertigen Fotografien können in zwei Reihen so angeordnet werden, so dass sich die Bilder zu zwei Zügen ergänzen, dessen je eine Seite schon/noch am Tag fährt, während die andere sich noch/schon in der Nacht befindet. Auf der einen Seite ist es im Zug hell und draußen dunkel, auf der anderen Seite ist es umgekehrt, mit vielen Abstufungen dazwischen: Die eine Bahn fährt in den Tag, die andere in die Nacht.

Die Fahrt mit der Untergrundbahn hat wenig von der Freiheit und Leichtigkeit, dem Abenteuer oder Pathos einer Reise, selbst wenn sie, wie hier, über eine Hochbahn geführt wird: Zu sehr ist sie mit Notwendigkeit und Wiederholung behaftet. Die Fahrt bringt uns nicht zu neuen Ufern, es gibt keine Entdeckungen, keine außergewöhnlichen Erfahrungen, die unser Befinden über das Mittelmaß des Alltäglichen erheben. Und die Bewegung des Morgens wird abends zurückgenommen, dazwischen war selten mehr als Arbeit.

Ergänzt werden die zwei Zugreihen durch eine komplementäre Serie von Aufnahmen aus Hochbahnen in Hamburg, Wuppertal und Berlin, die Blicke in angrenzende Büros und auf öffentliche Plätze zeigen.

Das gleiche Anspiel einer Ferne, so nah sie auch sein mag, – natürlich auch ein Stück Selbstreflexion des fotografischen Mediums. Manchmal gelingt es, durch zwei Fenster zwei disparate Leben in einem Bild zu vereinen, ein Simultaneffekt, der den Eindruck intersubjektiver Fremdheit noch erhöht. Das alltägliche Leben sieht zuweilen recht merkwürdig aus, wenn es von erhöhter Position distanziert betrachtet als Theater erscheint. Es kann so fremd erscheinen wie aus einem Ufo im Landeanflug von einem fernen Stern.

April 1994