Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Beredte Bilder
Reinhard Matz fotografiert NS-Gedenkstätten
  Schon in den Jahren der Vorbereitung trägt das für Frankfurt am Main geplante Projekt eines "Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust" seine Früchte. In einer bei Rowohlt erscheinenden Schriftenreihe, die das Projekt begleitet, liegen bereits fünf Bände vor, unter anderen der Acta-Band zur Planungsdehatte. die das Frankfurter Dezernat für Kultur und Freizeit im Oktober 1991 abhalten ließ (vgl. F.A.Z. vom 3. Juli 1993). Jetzt folgt "Die unsichtbaren Lager" als Band 6; der Band hält im hervorragenden Bildessay des Fotografen Reinhard Matz eine Verwandlung fest: Die Orte der Vernichtung werden zu Orten des Gedenkens.

Trug die Debatte des Jahres 1991 einen intellektuellen und theoretischen Charakter, so haben wir es hier mit einem Kunstwerk zu tun. Zwischen 1987 und 1992 reiste Matz durch Europa und nahm die Topographie des Schreckens auf, die Lager Buchenwald und Stutthof, Majdanek und Auschwitz, Treblinka und Dachau. Genauer: Was von ihnen heute noch zu sehen ist. Schwarzweiß und stumm läßt die Kamera es hervortreten, unter den Bildern stehen nur spärliche Texte: "Mauthausen 1988. Ausgestellte Dose mit Zyklon B‘. Oder unter dem Bild einer langen, sich dunkel hinziehenden Glasvitrine: "Auschwitz 1988: Haare von in den Gaskammern Ermordeten, in denen Blausäure nachgewiesen wurde".

Drei kurze Essays gehen der Bildsammlung voraus. In einem von ihnen macht der amerikanische Judaist James E. Young darauf aufmerksam, daß die Fotos menschenleer sind. Ohne alle Begleitung hat sich Matz seinem Thema ausgesetzt und zwingt nun auch den Betrachter, dieser Verlassenheit schutzlos standzuhalten. Un-Menschlichkeit? Die Spur des Opfers in der Abwesenheit? "Fotografien von stillen Orten sind allemal trügerisch", schreibt Young. "Denn sie verschleiern die stürmische Geschichte, die sich hier zugetragen hat. Sie machen uns glauben, daß der Ort mitverantwortlich sei für sein Schweigen, sind gleichsam das Echo dieses Schweigens."

In einem weiteren Essay prangert Andrzej Szczypiorski das kurze Gedächtnis einerMenschheit an, die Lügnern wie David Irving Glauben schenkt, wenn sie die Verbrechen der Nationalsozialisten leugnen: "In meinem Land", sagt der polnische Dichter, der an Warschaus Aufstand gegen die Nazis beteiligt war, "hat man die Existenz der KZ nie bezweifelt und tut das bis heute nicht, weil Polen der größte Friedhof der Zivilisation ist." Und Hanno Loewy, der die Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums betreut, schreibt eine kurze Geschichte deutscher und ausländischer NSGedenkstätten, zieht aufschlußreiche Vergleiche zwischen Mahnmalen in der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR, zwischen deutscher und jüdischer Erinnerungskultur in Israel.

Das Kernstück des Bandes aber sind die Bilder. In meisterhafter Schärfe stehen sie uns gegenüber, und gerade weil Reinhard Matz ihre Stummheit nicht mit überflüssigen Worten unterbricht, sind sie beredt. Im ehemaligen KZ Flossenbürg nimmt er einen Automaten auf, an dem eine Broschüre zur Geschichte des Lagers erhältlich ist. Ihr Umschlagbild klebt neben dem Geldeinwurf, es zeigt zwei Häftlinge, die einen ausgemergelten Mann stützen, darunter den Titel: "30000 Tote mahnen!" Über der Broschüre, in Höhe des Schlitzes, sieht man zwei Fünfmarkstücke, daneben noch einmal die Ziffern "2 x 5", den Preis, um den hier 30000 Tote mahnen. Gedenken im Dezimalsystem.

Reinhard Matz‘ ironischer Blick geht tief. Im französischen Natzweiler, wo die Nazis 1941 ein KZ errichtet hatten, zeigt er uns den Wegweiser vor der Gedenkstätte. Er steht neben einem Abfalleimer, seine beiden Schilder deuten in die gleiche Richtung. Auf dem ersten lesen wie: ,‚Chambre à gaz à 1500 m". Und auf dem zweiten: ‚,Toilettes 150 m". Der Mensch als Abfallprodukt. Das Gedenken als Recycling.

Im letzten Teil des Buches stellt Jochen Spielmann die von Matz aufgenommenen Gedenkstätten zusammen, fügt kurze, informative Texte bei, gibt Eintrittszeiten, historische Hintergründe, Statistiken des Verbrechens.

JAKOB HESSING
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 10.1993)