Joachim Weiner
Beschwören

(vollständige Wiedergabe)
  Die Beschwörung, einst vorzugsweise die Angelegenheit von Schamanen und Magiern, gehört zu den frühen Versuchen der Menschen, sich ihrer Ohnmacht gegenüber einem als unverfügbar erfahrenen Naturzusammenhang zu entledigen. Die durch magische Gesten oder Rituale herbeizitierte, im Zeichen der Ambivalenz von Heil und Vernichtung stehende Natur sollte gebannt werden, um ihre bedrohlichen Kräfte beherrschbar zu machen. Die Beschwörung war ein Versuch, sich die Natur im wahrsten Sinne des Wortes ein Stück weit vom Leibe zu halten, um nicht von ihr verschlungen zu werden, aber ohne sich dabei ihres Zusammenhangs zu begeben.

Im Horizont wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung, in dem Natur zu einem toten, durch Vernunft kontrollierten Objektzusammenhang geworden ist, haben die archaischen Beschwörungsgesten ihren Sinn verloren. Seit wir den kommunikativen Zusammenhang mit der Natur verlassen haben, gibt es nur noch Mißverständnisse. Eingelassen in eine Welt von Artefakten, die uns längst zu einer undurchdringlichen zweiten Natur geworden sind, sehnen wir uns nach einer von uns real nie erfahrenen ersten Natur zurück. Es ist dies allerdings ein Ersehnen, das nicht auf reale Einbindung zielt, sondern sich im Imaginativen erschöpft. Die Vorstellung, ungebändigter Natur ausgeliefert zu sein, macht nach wie vor Angst. Angst macht heute aber auch der ungewisse Zustand der Natur. Ihrer mehr oder weniger unbeschädigten Qualität müssen wir uns ebenso unablässig versichern wie der Funktionstüchtigkeit unserer technischen Umgebung. Gleichwohl entziehen sich beide Bereiche weitgehend unserer alltäglichen Wahrnehmung und Überprüfbarkeit, ein Defizit, das wir zunehmend wiederum als Ohnmacht erfahren.

Eine lebendige Natur, deren Zeichen wir verstünden als spräche sie zu uns, können wir nur imaginieren. All die Versuche, sie in Bildern heraufzubeschwören, artikulieren gleichsam ihre beständige Vergeblichkeit. Statt ihr im Bild zu begegnen, erliegen wir dem Bann der Bilder, in denen sie uns mit ihrer abweisenden Stummheit ähnlich geheimnisvoll erscheint, wie jene zahllosen Erfindungen, mit denen wir uns für den Verlust kommunikativer Naturerfahrung zu entschädigen suchen.

Köln, 1987