Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Leere Räume, böser Bote.
Photographien aus dem musealen Zeitalter
  Pünktlich zum Wechsel des Jahrzehnts wurden mit der Berliner Mauer die achtziger Jahre geschleift, deren große Themen an den Rand gedrängt: ein stilisierter oder gestylter Hedonismus, die Zerstörung von Körpern und vermeintlicher Sicherheiten durch Tschernobyl, die ideologische Beerdigung von Geschichte. Bereits am 2. Februar l987, hatte der Germanist und Photograph Reinhard Matz einen Essay abgeschlossen: Räume oder Das museale Zeitalter - das gleichnamige Buch, das diesen Text sowie zwanzig großformatige Schwarzweißphotographien enthält, erschien aber erst in diesem Jahr.

Das Projekt wurde, wie Matz in einer kurz vor Drucklegung hinzugefügten Vorbemerkung ironisch vermerkt, "von den derzeitigen Ereignissen in Mitteleuropa geradezu überrollt".So schnell ist der Blick zurückgeschwenkt zur Straße, zu den großen Bewegungen, daß man fast vergessen könnte, wie obsessiv die achtziger Jahre den Raum thematisiert und symbolisch aufgeladen haben. Daran erinnert nun Reinhard Matz mit seinem Essay, der der psychischen Funktion der "Wände als zweiter Haut" nachspürt. "Der alte Raum", "Der große Raum", "Der leere Raum" und "Der verfallende Raum" werden vom kollektiven Imaginären zurückgewonnen und dem Denkmalschutz überantwortet. Die Halle, der Saal werden wiederentdeckt und konserviert; Bäder, Bahnhöfe und Fabriken füllen sich, oftmals verlegen, mit Kunst, Musik, Nippes: Der große Raum wird museal. Die Photographie, seit ihrer Erfindung Instrument der Erinnerung, ist der böse Bote der Veränderung. Wo der Photograph auftaucht, ist etwas zu Ende. Die Asthetikder Photographie - so argumentiert Matz hellsichtig - habe ihrerseits Maßstäbe gesetzt in der Konzeption von Räumen und Städten: "Das Museum ist der Repräsentationsbau unserer Zeit. ... Die Glätte der Baumaterialien, die weißen Wände, die angestrebte Lichtkonstanz, die sterile Sauberkeit, alles scheint Zeit vergessen machen zu sollen, scheint wie für die ewige Übereinkunft mit seiner fotografischen Aufnahme präpariert."

Als Photograph allerdings hat Reinhard Matz die großen, die verfallenden und die leeren Räume weniger durchdrungen, als er ihnen erlegen ist. Halb Europa hat er bereist auf der Suche nach jenen Orten, die dabei sind, ihre Funktion gegen ihre Musealisierung einzutauschen, oder diesen Tausch schon hinter sich haben: "Ehemalige Gleishalle des Nordbahnhofs, Barcelona"; "Sala dello Scrutinio, ehemaliger Abstimmungssaal im Dogenpalast, Venedig", "Waschkaue der ehemaligen Zeche Hermann, Essen". Menschenleer liegen die Hallen da, sanft durchflutet vom Tageslicht. "Noch einmal stützt das Bild die nostalgische Idee, daß in einem Blick alles zu erfassen sei": Matzens eigene Apologie kann sehr wohl zur zentralen Kritik an seinem Projekt gewendet werden. Es sind gerade die nostalgischen Bilder, die immer auch mithelfen, uns den Boden gelebten Lebens unter den Füßen wegzuziehen. Die Musealisierung des Blicks nachzustellen bedeutet eben, den Räumen ihre dynamische geschichtliche Kraft abzusprechen. Mit dem "einen Blick" einzutreten heißt: den Ausgang nicht mehr finden wollen.

ULF ERDMANN ZIEGLER
(Mit Abbildung in: Die Zeit, Hamburg, 2.11.1990)