Fototheoretische und fotohistorische Arbeiten und Veröffentlichungen


2003 Reinhard Matz
Fassade. Köln – Architektur, Straßen, Öffentlichkeit
Projektentwurf

(hier vollständig wiedergegeben)
  Schaut man sich alte grafische Stadtdarstellungen an, versteht man, dass Köln seinen Besuchern bis ins 19. Jahrhundert vorgekommen sein muss wie uns heute New York. Bekanntlich galt die Stadt im Mittelalter mit 40.000 Einwohnern als die größte nördlich der Alpen. Die nie eingenommene Stadtmauer signalisierte Macht. Während Köln durch Handel zu Reichtum kam, musste die Stadtbefestigung zwischen 950 und 1180 dreimal erweitert werden. Dennoch wurde die Stadt durch ihre Befestigung zusammengezwängt. So wuchs die westliche Bastion des deutschen Reichs aus repräsentativen Gründen ebenso in die Höhe, wie der schmale Streifen zwischen Hudson und East River für die amerikanische Metropole Türme erzwang. Und wenn ein Bauwerk vor der industriellen Revolution mit 20 bis 30 Metern hoch war, bot Köln mit seinen städtischen und kirchlichen Türmen zweifellos einen imposanten Anblick.

Der Slogan "Metropole des Westens", der Mitte der 1980er Jahre mit wirtschaftspolitischem Hintergedanken von der Stadtwerbung lanciert wurde, mag ein Versuch gewesen sein, noch einmal an die vergangene Bedeutung anzuknüpfen. Inzwischen spricht niemand mehr davon. Neben aller "Leitbild-Diskussion" verbreitet sich fast unter der Hand eine andere Orientierung für die Stadt.

Es scheint, als würde weitgreifend und nachhaltig daran gearbeit, aus der potentiellen Großstadt Köln eine Kleinstadt zu machen. Verlieblichung des Stadtbildes und Verhinderung von Verkehr heißt das Ziel. Ich kenne keine Stadt, in der die Ampelphasen länger wären. Alle Straßen werden möglichst einspurig, alle Viertelsdurchfahrten wo irgend möglich gesperrt. Das Einbahnstraßensystem wird so komplex wie möglich angelegt … Nicht Angebot, sondern Behinderung, nicht Großzügigkeit, sondern Enge gibt in Köln das Maß. So, als wäre noch immer eine Mauer um den Sprengel.

1881 fiel in Köln die Stadtmauer. Aber auch die Grundstücke der Außenbezirke wurden relativ schmal bemessen. Grundstücksbreiten von weniger als sechs Metern sind in Köln keine Seltenheit. Und verglichen mit entsprechenden Häusern in Norddeutschland sind selbst die Gründerzeitbauten eng. Dennoch sollen im traditionellen Kölner Haus wenn irgend möglich drei Zimmer hinter drei Fenstern nach vorne zur Straße liegen. Die sind dann zwei einhalb bis drei einhalb Meter breit und drei einhalb bis um die fünf Meter tief. In Berlin ist selbst im Hinterhaus in jeder Dimension ein Meter mehr die Regel.

Diesem städtischen Hang zum Kleinen korrespondiert die Fassadengestaltung der Hausbesitzer. Wo seitens der Architektur vielleicht noch zeitgemäße Gestaltung waltete, wird durch neue Verkleidungen, Anstriche, Fenster- und Türgestaltung Verniedlichung betrieben. Mich interessiert weniger, dass Hausbesitzern das Geld für neue Fenster oder einen Fassadenanstrich fehlt. Das ist bedauerlich. Erstaunliches geschieht, wenn Geld da ist. Hier existiert kein Maßstab, kein Kanon, keine Orientierung, wie Stadterneuerung im Großen und Kleinen aussehen sollte. Allenthalben wird gebastelt. Vom sozialen Standpunkt kann man das sympathisch finden, vom ästhetischen ist es oft einfaltslos oder grotesk.

Dass Köln im Zweiten Weltkrieg wie wenige Städte unter dem Verlust historischer Substanz gelitten hat, ist eines. Dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit schnell und mit geringen Mitteln Wohnraum geschaffen werden musste, ist nicht zu bemängeln. Problematisch sind die Verluste im Zuge der Neugestaltung und der aufkommenden Prosperität, die bekanntlich die Kriegsverluste noch übertreffen. Da werden auch heute noch Straßenfluchten komplettiert oder im historischen Maß reproduziert, wo Neugestaltung Großzügigkeit ermöglicht hätte. Da bestimmen modisches Empfinden und Sparsinn das Schicksal historisch verankerter Stilmerkmale. Da entstehen Farb- und Stilbrüche von Haus zu Haus, weil Zeit- und individueller Geschmack keine Rücksicht nimmt. Mehr als in anderen Städten fallen in Kölner Straßenzügen die markanten Unterschiede von Haus zu Haus ins Auge.

Im Spannungsverhältnis mit Praktikabilität und Preis bleiben bei Neugestaltungen Ästhetik und tradierte Materialien meist auf der Strecke. Nichts gegen neue Materialien – an neuen Häusern. Erschreckend sind die Substanzverluste der alten Gebäude durch Erneuerungen: Die Begradigung von Bögen, die Verkleinerung von Fenstern, die Nichtung historischer Ornamente, der Ersatz von Putz durch Presspappen-Verschalung, Aluminium statt Eisen, Plastik statt Holz. Der gesteigerte Schrecken ist dann das Als-ob, der Fake, mehr Schein als Sein: übertünchtes Styropor statt Stuck, Gipskarton statt Stein … Man klopft, und es klingt hohl.

Die Idee zu "Fassade. Köln" entsprang dem Gegensatz meiner Wahrnehmung dieser Stadt, in der ich seit mehr als einem Viertel Jahrhundert lebe, einerseits und den vielen bunten Bella-Vista-Büchern über sie andererseits. Köln ist vielleicht eine interessante, jedenfalls keine schöne Stadt, aber die üblichen Köln-Fotobücher sind groß, bunt und nett. Damit verspielen sie einen Blick auf die Spezifik der Stadt, deren Bild individueller, spröder, stilloser und befremdlicher ist – oder, je nach Gemüt und Stimmungslage, auch lebendiger, vielschichtiger, überraschender und amüsanter, als es in ihren verklärten Darstellungen erscheint.

Ich werde von November 2001 bis Frühjahr 2004 rund 500 Fotografien in einem repräsentativen Querschnitt der 105 Kölner Stadtteile machen. Thema ist das Stadtbild im Detail, wie es sich aus dem Zusammenspiel von Straßen, Straßenzügen, Straßenfronten, Fassaden und Eingängen, aus Baumaterialien, Ornamenten und Farben nach den Maßgaben städtischer und individueller Gestaltung ergibt. Die Gliederung wird nicht topografisch, historisch oder stiltypologisch sein, sondern thematisch. Nach derzeitiger Planung ergibt sich folgende Einteilung:

Empfang (rund um den Bahnhof)
Kleinstadt Köln
Straßen, Straßenzüge
Straßenfronten, Straßenecken
Fassaden. Bürogebäude
Fassaden. Wohnhochhauser
Fassaden. Wohngebäude
Eingänge, Durchgänge
Details
Verkleidungen
Dekoration, Kunst
Happy End

Die Fotografien werden mit einer Digitalkamera hergestellt, deren Bildqualität etwa der einer analogen Kleinbild-Kamera entspricht. Perspektivische Verzeichnungen werden nicht herausgerechnet, sodass Fluchten der Objekte und Verwinkelungen der Kamera den Charakter zufälliger, wenn auch detailierter und genau begrenzter Blicke wahren. Auf verfremdene Effekte wird weitmöglichst verzichtet.

Aus diesem Material soll eine Ausstellung und eine zweigliedrige Buchpublikation entstehen. Band 1 der Buchpublikation umfasst ca. 50 % des gesamten Fotomaterials, also etwa 250 Bilder. Alle Bilder werden mit Stadtteil, Straße und Hausnummer nachgewiesen. Außer diesen Nachweisen sowie Titel, Impressum und einer editorischen Notiz enthält dieser Band keinerlei Text.

Dem 1. Band kann eine Subskriptionskarte für Band 2 beigelegt werden, der etwa ein Jahr später erscheint und (womöglich z.T. illustrierte) Texte von Literaten, Fachpublizisten, Wisschenschaftlern, Stadtplanern und Stadtpolitikern sowie ein Projektnachwort des Fotografen enthält, Texte, die das Thema Kölner Stadtgestaltung erweitern und vertiefen.

Beide Bände sind etwa 16 x 21 cm groß (Buchblock) und fadengeheftet. Eine Teilauflage beider Bände wird hard-, der Rest softcover gebunden.

Ausstellung und Buchvorstellung sind mit dem Forum für Zeitgenössische Fotografie, Schönhauser Straße, verabredet.

4/2003