Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Gullivers Reisen sind zu Ende
  Martin Manz’ und Reinhard Matz’ Fotobuch "Unsere Landschaften"
Von Michael Schwarze

Ein Foto, aufgenommen irgendwo in Koblenz. Ein Bild von uns, den Zauberlehrlingen, die der Geister, die wir riefen, nicht mehr Herr werden. Sie sind uns buchstäblich über den Kopf gewachsen. Leicht können wir uns darüber täuschen. Von oben sieht die Welt ganz anders aus. Dort auf den Betonstelzen, die vergewaltigte Landschaft demütig zu Füßen, mag man noch der trügerischen Vorstellung von der Allmacht des Menschen nachhängen. Doch wir tun nichts mehr, mit uns wird etwas getan. Wir werden erdrückt von Bauwerken, die dem menschlichen Maßstab längst entlaufen sind. Gullivers Reisen sind zu Ende, der Mensch ist zur Winzigkeit geschrumpft, selbst das, was er einmal für groß und stattlich hielt, seine Behausung, duckt sich heute unter der Gigantonomie öden Betons. Gibt es Absurderes als jene Blumenkästen, die sich da der kalten, glatten Ausgeburt technischer Phantasie entgegenrecken?

Ein Aufstand, den der eisige Hauch der Vergeblichkeit umgibt, ein Dokument der Tragik im industriellen Zeitalter. Das alles ist so sinnlos, und dennoch notwendig, will der Mensch nicht in der Resignation des Alltags ertrinken. Während dieses Land im Großen immer häßlicher wird, wird es im Kleinen immer feiner. Artig hat hier einer sein Häuschen geweißt, hat verschönert, was zu verschönern in seiner Macht stand, ein rührendes Symbol stummer Auflehnung. "Unsere Landschaften" nennen Martin Manz und Reinhard Matz ihren Fotoband, ein irritierender Titel, weil wir uns im stil-len immer noch weigern, in den Land-schaftsbildern eines Caspar David Friedrich die Ikonographie einer vergangenen Epoche zu sehen. Schließlich gibt es ja noch jene Augenblicke, wo der Mensch, sich im Walde ergehend, der Überzeugung sein kann, es gäbe sie noch: die unzerstörte Natur. Der Blick aus dem Flugzeug belehrt uns meist eines Besseren, überführt uns des Selbst-betrugs, zeigt die zersiedelte, betonierte, von unendlichen Straßen duchzogene Topogra-phie, unsere Landschaft eben, die mit dem gemütvollen Beiwort Heimat zu bezeichnen wir uns scheuen.

In ihrem Buch zitieren Manz und Matz eine Reiseimpression von Italo Calvino: „Hätte ich bei der Landung in Trude nicht mit großen Buchstaben den Namen der Stadt gelesen, ich hätte geglaubt, auf demselben Flughafen angekommen zu sein, von dem ich abgeflogen war. Die Vororte, durch die sie mich fahren ließen, waren nicht anders als die anderen, die gleichen gelblichen und grünlichen Häuser. Den gleichen Hinweisschildern folgend, umfährt man die gleichen Anlagen der gleichen Plätze.“ So ist es wohl, hier, in Italien und anderswo. Für das Besondere, sich der Erinnerung Einprägende, sorgt eigentlich nur noch die überkommene Architekur, jene Bauten, in denen sich eine Stadt, eine Region, ein Land auf eine einzigartige und unverwechselbare Weise dargestellt hatte. Die tristen Betonburgen, Brückenkonstruk-tionen, Autobahnen, die diese beiden Fotografen mit leidender Akribie aufgespürt haben, finden sich in Frankfurt so gut wie in Köln, Bremen, Bochum oder auf dem, was so anachronistisch das platte Land heißt, sie sind überall und für unser Gedächtnis auf befremdliche Weise auch nirgendwo. Meist nehmen wir diese Scheußlichkeiten nicht mehr wahr. Sie sind zum ständigen Bühnenbild unseres Lebens geworden, nur wo, wie etwa in jener Idylle zwischen Betonstelzen der Kontrast an Brutalität nicht zu überbieten ist, wirkt Häßlichkeit noch als Schock. Es sind Bilder, die sich der her-kömmlichen Kameraoptik und damit dem menschlichen Auge oft genug entziehen. Tele- und Weitwinkelobjektiv enthüllen, wie furchterregend unsere Stadtlandschaften im Großen geworden sind, wie rücksichtslos mit der tradierten Maßstäblichkeit unserer Städte umgegangen worden ist. Das Alte und das Neue: im Hintergrund der Limburger Dom, im Vordergrund eine vielspurige Autobahn, angesichts solcher rüden Zerstörung einer jahrhundertealten Stadt-silhouette kommen fortschrittsgläubige Plattitüden schwer über die Lippen. Es ist ein radikales, unbarmherziges Buche. Es kann es sein, weil es fotografisch dokumentiert, was als Essay mit mancherlei Einwänden zu rechnen hätte.

Die Fotografen scheren sich nicht um feuerpolizeiliche Auflagen, um Bilanzen, um Rentabilitätsvorstellungen, Funktion und Statik, sie diskutieren nicht Absichten, sondern registrieren Ergebnisse. Ihre Sehweise ist gewiß nicht leidenschaftslos, aber man kann auch nicht sagen, sie suchten bemüht um Belege für eine harsche Kritik der zeitgenössischen Architektur. Da haben einige Silhouetten, vor allem wenn sie in das milde Licht der Abenddämmerung getaucht sind, einen merkwürdigen Reiz, da lassen Kühltürme, Fabrikschlote, Hochhäuser gelegentlich ahnen, warum Menschen, sie sehend, einmal geglaubt haben, hier verwirkliche sich ein vollkommen neuer Begriff von Schönheit. Vor allem die menschenleeren Landschaftsfotos von Reinhard Matz faszinieren durch kalte, seelenlose Schönheit. Während Manz stets die Ohnmacht des Menschen gegenüber dieser überbordenden Technik sichtbar macht, konfrontiert Matz den Betrachter mit der nature mort, mit autolosen Autobahnen, die freilich, ihrer Funktion entledigt, von grotesker Sinnlosigkeit sind oder sich doch wenigstens selbst genügen.

Der Narzißmus der Objekte oder die Entbehrlichkeit des Menschen: Dies ist das Thema eines eindrucksvollen Bildbandes, den wohl nicht zufällig zwei Fotografen gestaltet haben, die noch keine dreißig Jahre alt sind. Sie sehen mit einem Mal eine Landschaft, unsere Landschaft, die sie nicht gestaltet haben, von deren Bedingtheiten sie nichts wissen - und sind entsetzt.

(Mit Abbildung in der Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , 4.10.1980)