Fototheoretische und fotohistorische Arbeiten und Veröffentlichungen


2001 Rudolf Herz / Reinhard Matz
Überschrieben. 1997
  2. Entwurf zum beschränkten Berliner Wettbewerb Denkmal für die Ermordeten Juden Europas

Vorbemerkung
Unser Entwurf ÜBERSCHRIEBEN zieht die Konsequenz aus dem Scheitern herkömmlicher Denkmalskunst und den vielfältigen Problemen, die sich aus dem Berliner Wettbewerbsgrundstück ergeben. Werke der Denkmalskunst, die durch eindrückliche Formgebung versuchen, an eine Person oder ein Ereignis zu erinnern, sind in dreifachem Sinn tot: leblos, obsolet und sie werden nach ihrer Kenntnisnahme liegengelassen. Vor allem müssen sie an einem Gegenstand scheitern, der sich nachträglicher Darstellung entzieht, schon weil er jedes nachgeborene Vorstellungsvermögen übersteigt. Die historisch neue Denkmalsaufgabe, Verbrechen der nationalen Geschichte in repräsentativer Weise zu reflektieren, erfordert neuartige, radikale und entsprechend unbequeme Lösungen. Wir schlagen für diesen Gegenstand vor, die ästhetische Dimension der Kunst in ihrer sozialen Funktion aufzuheben. Unsere künstlerische Konzeption zielt auf eine lebendige Form, der es gelingen kann, die Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wachzuhalten. Der Vorschlag umfaßt neben dem Mahnmal die Gründung einer Stiftung.

Das Mahnmal
Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas wird an einem frei gewählten Ort mitten in Deutschland errichtet – auf der Bundesautobahn A 7 südlich von Kassel. Das Mahnmal ist der Autobahnkilometer 334, der in beiden Richtungen auf einer Länge von einem Kilometer gepflastert wird. Zu Beginn der Strecke im Norden und Süden überschreibt eine Schilderbrücke die Fahrbahn mit der Schriftzeile: MAHNMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS. Die Geschwindigkeit ist auf 30 km/h begrenzt. An den Autobahnraststätten wenige Kilometer südlich und nördlich des Mahnmals werden auf Texttafeln historische Informationen bereitgestellt bzw.weiterführende Literatur über den Holocaust und das Mahnmalsprojekt angeboten. (1)

Die Stiftung
Das ursprünglich dem Denkmal zugedachte Grundstück südlich des Brandenburger Tors in Berlin wird verkauft – verknüpft mit der Auflage, an wichtiger Stelle eine Bronzetafel mit folgendem Text in mehreren Sprachen anzubringen: "Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Senat von Berlin und ein privater Förderkreis planten an diesem Ort ein zentrales Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Nach eingehender Diskussion folgten die Auslober dem Vorschlag, das Gelände zu veräußern. Im Gedenken an die von Deutschen und im deutschen Namen ermordeten Juden ist mit dem Erlös die Stiftung zur Unterstützung verfolgter Minderheiten gegründet worden. Als nationales Mahnmal wurde stattdessen der Kilometer 334 der Bundesautobahn A7 südlich von Kassel aufgepflastert." Über die Trägerschaft der Stiftung, ihre genaue Zielsetzung und ihre jährliche Mittelvergabe ist ein öffentlicher Diskurs zu führen.

Erläuterung
Wir gehen davon aus, daß heute nur die permanente Infragestellung eines weithin anerkannten Symbols die erwünschte Lebendigkeit eines Denkmals auf längere Zeit hin ermöglichen kann. Zu den wenigen, gemeinschaftsstiftenden nationalen Symbolen in der Bundesrepublik zählt die Autobahn. Sie eignet sich dadurch in besonderer Weise für Projekte kollektiver Erinnerung. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn rührt an einen Mythos, der sowohl mit der neueren deutschen Geschichte als auch dem Gefühlshaushalt der Bundesbürger und dem modernen Alltagsleben verknüpft ist. Die Autobahn, die geradezu zum Inbegriff des deutschen Wirtschaftsaufschwungs in den 30er und 50er Jahren wurde, signalisiert gesellschaftliche Kontinuität. Die Autobahn durchgesetzt zu haben, wird auch heute noch weithin als Hitlers Leistung anerkannt und zu den positiven Seiten des Dritten Reiches gezählt. "The German Autobahn" steht heute für vieles: für moderne Verkehrstechnologie, für individuelle Bewegungsfreiheit, für Tugenden wie Perfektion und Zuverlässigkeit, die gerne als Merkmale nationaler Identität reklamiert werden, zugleich aber auch für reibungsloses Funktionieren, rücksichtslosen Durchsetzungswillen und unübersehbare Aggressivität, – eine mentale Mischung, ohne die der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung nicht möglich gewesen wäre.

Unser Mahnmalsentwurf zielt auf ein Innehalten im rast- und erinnerungslosen Dahinfließen unserer Wirtschafts- und Freizeitgestaltung und damit auf eine "Absage an eine scheinbar heile nationale Identität"(Salomon Korn).

Das Mahnmal stellt nichts dar, schon gar nicht die Vernichtung der europäischen Juden, denn der Holocaust ist nicht darstellbar. Dem Mahnmal wird sich niemand entziehen können wie einem statischen Denkmal an repräsentativem Standort, denn das vorgesehene Autobahnstück ist sinnvoll nicht zu umfahren. Im Gegenteil. Dieses Mahnmal wird von etwa 40 Millionen Menschen im Jahr nicht nur wahrgenommen, sondern auch benutzt. Wenngleich es bei normalem Verkehr eine Fahrtverlängerung von nur zwei bis drei Minuten bedeutet, greift es effektiv in die funktionalen Abläufe unserer Gesellschaft ein, die es dabei reflektierbar macht und historisch vermaßt.

Die "Überschreibung eines Autobahnkilometers"zugunsten eines Mahnmals zielt nicht auf memoratives Pathos, sondern verlangt ein Sich-zurücknehmen und wird damit beständig individuelle Reaktionen und politische Auseinandersetzungen provozieren. Die gemessen am Anlaß gelinde, aber nachhaltige Störung durch Verlangsamung (es handelt sich um einen Kilometer eines Autobahnnetzes von 11000 km) ist der Preis für die lebendige Erinnerung an den Holocaust. Von daher bedeutet das Mahnmal einen Test in doppeltem Sinn. So wie es von der Gesellschaft durch Gebrauch auf sein Funktionieren getestet wird, so testet das Mahnmal selbst die Gesellschaft auf ihre Bereitschaft, jenseits alibihafter Monumente die Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wach zu halten.

Das Mahnmal läßt sich nicht politisch vereinnahmen. Es bleibt ein Stein des Anstoßes, aber jeder Anstoß wird gleichsam auf sich zurückverwiesen und vor die Frage gestellt: Was ist das eigentliche Ärgernis? Der Holocaust oder diese Form seiner Erinnerung?

Ebenso wie der gepflasterte Autobahnkilometer erschöpft sich unser Vorschlag, ein prominentes Berliner Grundstück einer Stiftung zur Unterstützung verfolgter Minderheiten zu überschreiben, nicht in der repräsentativen Geste. Die Stiftung verbindet die Erinnerung an die nationalsozialistische Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden mit der Absicht, die gegenwärtige Diskriminierung von Minderheiten bewußt zu machen und weltweit humanitäre Hilfe zu leisten. Ihr Gründungskapital wird mehr als 200 Millionen DM betragen. Die jährlich zu führende Diskussion über die Frage, wie die Mittel zu verwenden sind, wird nachhaltig zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über ideologisch, politisch, sozial, religiös und ethnisch motivierte Verfolgung führen. Die Kooperation mit Non Gouvernment Organisations wie Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen u.a. wird Grundlage der Stiftungstätigkeit sein.

München, 16.10.1997

(1) Anmerkung zur technischen Ausführung: Die drei Spuren der Autobahn werden mit Kopfsteinpflaster aufgepflastert, für Rettungsfahrzeuge bleibt die Standspur asphaltiert. Das Fahrbahnprofil ist 3‰ geneigt, was den Wasserabfluß garantiert. Das erste Hinweisschild steht 2000 Meter vor dem Mahnmal. Ab 1000 Meter erfolgt die Reduzierung der Geschwindigkeit mittels eines Trichters in mehreren Schritten von 20 km/h pro 200 Meter. Damit werden der Geschwindigkeitssprung von 130 auf 30 entschärft und die daraus resultierenden Stoßwellen gedämpft. Unter den normalen Verkehrsbedingungen ist kein kapazitätsbedingter Stau zu erwarten. Der durchschnittliche tägliche Verkehr (DTV) beträgt im Streckenabschnitt AS Melsungen/AS Homburg 65 000 Fahrzeuge pro Tag. Die Kapazität der bisherigen Strecke ohne Geschwindigkeitsbegrenzung umfaßt 2750 Fahrzeuge, die errechnete Kapazität der gepflasterten Strecke mit Geschwindigkeitsbegrenzung 4500 Fahrzeuge pro Stunde und Richtung. Die Lärmentwicklung ist geringer als unter den zuvor herrschenden Bedingungen.

Wir bedanken uns für ihre Unterstützung bei Hans Döring, München, und Kai Lorenz (VIA, Beratende Ingenieure), Berlin.



Rudolf Herz / Reinhard Matz
Leerstelle. 1995

1. Entwurf zum Berliner Wettbewerb Denkmal für die ermordeten Juden Europas (9. Preis)

Vorbemerkung
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, vor allem wie sie von den Nationalsozialisten beispiellos betrieben wurde, sprengt jedes nachgeborene Vorstellungsvermögen und stellt die künstlerische Darstellung vor erhebliche Probleme. Alle Versuche, diesen historischen Ereignissen durch eine ästhetische Gestalt in positivo gerecht werden zu wollen, dürften einer Verharmlosung jener Verbrechen gleichkommen. Darüberhinaus gilt es zu vermeiden, die Ermordeten zu ›Opfern‹ zu stilisieren, sie mithin im Sinne nachträglicher Ideen zu instrumentalisieren. Aus diesen beiden Gründen glauben wir, daß das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im wesentlichen durch Negation, durch ein Zeichen der Leere gekennzeichnet sein sollte. Das Thema erfordert gleichwohl eine ungewöhnliche konzeptionelle Radikalität wie sinnliche Eindringlichkeit.

Ortsbeschreibung, Begehung, Nutzung
Das Denkmal, besser: Mahnmal, ist 80 Meter lang, 60 Meter breit und 50 Meter tief. Es entzieht sich weitmöglichst allen Symbolisierungen und nimmt in seiner Ausrichtung keine der städtebaulichen Achsen seiner Umgebung auf.

Die senkrecht glatt abfallenden Wände sind aus dunkel eingefärbtem Beton. Der nur zum Regenabfluß leicht geschrägte, im übrigen glatte Boden ist mit antrazitfarbenem Schotter belegt. Dieser Leerraum ist durch eine fünf Meter hohe Mauer umschlossen, die an keiner Stelle einen Durchblick gewährt.

Den einzigen Einblick in die "Leerstelle"bietet eine 40 Meter über dem Boden, 10 Meter unter Terrain frei schwebende Plattform von fünf mal acht Metern. Diese Plattform wird über einen weiten, gebogenen, großenteils unterirdisch verlaufenden Zugang erreicht. Wenn man diesen Tunnel verläßt, steht man bereits über dem Abgrund. Die Plattform und das Mahnmal sind so plaziert, daß die städtebauliche Umgebung nicht sichtbar wird.

Auf der Mauer zur Ebertstraße, neben dem Eingang steht in erhabenen Lettern und in mehreren europäischen Sprachen die Zeile: gejagt, gefoltert, erschlagen, verbrannt, erschossen, gehenkt, vergiftet, erstickt, vergast – Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.

An dieser Stelle, vor dem Eingang zum Mahnmal können Blumen und Kränze niedergelegt werden. Auf dem Grundstück außerhalb der Mauern besteht für Staatsgäste die Möglichkeit, Bäume zu pflanzen, so daß das Mahnmal mit der Zeit in einen frei zugänglichen Park gebettet ist. Eine der "Leerstelle"kontrastierende, lebendige Alltagsnutzung ihrer unmittelbaren Umgebung ist von uns erwünscht.

Von dokumentarischen Aufbereitungen zur Geschichte der Judenverfolgung, von Seminarräumen, Ausstellungen und entsprechenden Folgekosten kann abgesehen werden, da diese Aufgaben die nicht weit entfernte Gedenkstätte "Topografie des Terrors"übernehmen soll.

Bei Andrang ist der Zugang der Plattform zu beschränken. Der Boden des Mahnmals muß von über die Mauer geworfenem Müll und Unkrautbewuchs gereinigt, das Regenwasser abgepumpt werden.

Nachts ist das Mahnmal geschlossen.

Schlußbemerkung
Wir sind der Ansicht, daß nur ein außergewöhnliches Zeichen dem Thema gerecht wird. – Technisch ist die "Leerstelle"machbar. Konsultationen von Berliner Tiefbaufirmen ergaben, daß ein Vorhaben dieser Größenordnung selbst mit Hilfe eines uns vorliegenden geologischen Gutachtens der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz kaum realistisch zu kalkulieren ist. Es fehlen hierzu Erfahrungswerte, Bauverwaltungsvorschriften werden verletzt, Grundwasserströme müssen kanalisiert werden. Es sind Maßnahmen erforderlich, die nicht in einem auf 15 Millionen DM begrenzten Finanzrahmen zu realisieren sind.