1987 | Reinhard Matz Industriefotografie. Aus Firmenarchiven des Ruhrgebiets (Hier nur der methodische Teil des Einleitungskapitels) Einleitung. Zur Methode Dies ist ein Buch über Fotografie. |
Seit einiger Zeit scheint die Geschichtswissenschaft ein Ungenügen gegenüber ihrer traditionellen Quelle, dem schriftlichen Dokument, der Archivalie, zu empfinden. Getragen von dem Bedürfnis, nicht nur die großen historischen Entwicklungen und Einschnitte zu untersuchen, sondern auch das alltägliche Dazwischen zu thematisieren, sieht sie sich gezwungen, neue Quellen zu erschließen. So wurden Alltagsgegenstände zu Museumsobjekten aufgewertet, Lebenserinnerungen älterer Menschen mittels umfassender Ton- und Videobänder festgehalten und auch Fotografien in die Forschung einbezogen. In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren verschiedene Bücher und Kataloge zum Thema Industrie erschienen, die sich weitgehend auf die fotografische Erfassung ihres Gegenstands stützen (so u. a. Fowler 1985, Glaser 1981, Rogge 1983, Ruppert 1983, Sande 1976). Die Fotografie wird dort rein instrumentell in ihrer abbildenden, quasi dokumentarischen Qualität benutzt. Dabei werden die jeweiligen Besonderheiten der Fotografien, ihre Eigengesetzlichkeiten als Bilder, die technischen Bedingungen ihrer Erstellung, ihre raum/zeitliche Ausschnitthaftigkeit und intentionale Bestimmung sowie ihre Einbindung in Verwertungszusammenhänge praktisch unberücksichtigt gelassen. Kurzum, die Fotografien werden behandelt, als seien sie tatsächlich neutrale, unschuldige, selbstlose Medien. Im Gegensatz dazu will ich versuchen, den eigenständigen Charakter der Fotografien in ihrer Benutzung durch Unternehmen im Ruhrgebiet herauszuarbeiten (vgl. ähnlich gelagerte Ansätze bei Hurley 1980, Nye 1985). Mit anderen Worten, es geht hier nicht um eine Illustration der Industriegeschichte, sondern – am Beispiel des Ruhrgebiets – um Grundlagen zu einer Geschichte der Industriefotografie. Was heißt eigentlich Industriefotografie? Gehört jedes Foto dazu, das industrielle Betriebe zeigt? Müssen industriell gefertigte Produkte an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Weise fotografiert sein, um dazu zu gehören? Wie sind aus dem Produktionszusammenhang losgelöste Portraits von Unternehmern, Vorstandsmitgliedern, Angestellten oder Arbeitern einzuordnen? Was ist mit den zahlreichen Fotos von Hauptversammlungen, Betriebsfeiern und Besuchen? Sind nur die Produkte von Werksfotografen oder auch die freier Fotografen und Amateure dazu zu rechnen? Sind nur Fotografien im Interesse der Unternehmen zu berücksichtigen oder auch solche, die diesem Interesse entgegenstehen? Die Beantwortung dieser Fragen durch Eingrenzung eines klar definierten Feldes von Gegenständen, Herstellern und mutmaßlichen Intentionen zu erschließen, droht akademisch zu werden, weshalb für folgende Untersuchung ein den Fotografien und ihrer Herstellung äußerliches Kriterium zugrunde gelegt wurde. Ich umgehe eine in ihren Grenzziehungen stets willkürliche Definition und beschränke meine Analyse auf Bestände, die sich durch ihren Fundort zumindest in dieser Hinsicht selbst definieren: Alle behandelten Fotografien stammen aus Firmenarchiven des Ruhrgebiets. Diese Quelle legt fest und schließt aus. Wohl in den seltensten Fällen werden Aufnahmen direkt für das Archiv angefertigt. In aller Regel gilt es, aktuelle Funktionen zu erfüllen, die das Bild elementar bestimmen. Bis eine Fotografie schließlich ins Archiv aufgenommen wird, um späteren Zeiten Anschauungsmaterial vom Umfang, von der Verfassung und Geschichte des Unternehmens zu übermitteln, hat sie die verschiedensten institutionellen Filter durchlaufen, die als Ergebnis nur eines zulassen: das positive Bild der eigenen industriellen und wirtschaftlichen Leistung. Man kann sagen, dass sich hier in konzentrierter Form das Darstellungs- oder Repräsentationsbedürfnis eines Unternehmens findet, so, wie es sich mittels Fotografie im Rahmen der sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse artikulieren kann und diese mitbestimmen will. Hierin liegt die nicht auslösbare Grundbedingung aller hier verarbeiteten Fotografien. Nichtsdestoweniger wird der Historiker fundamental enttäuscht, wenn er ein Firmenarchiv betritt und hofft, in den gesammelten Fotografien eine kontinuierliche und informative Darstellung der Unternehmensentwicklung zu finden. Dazu wünschten wir uns Bildmaterial aus allen Epochen und Gegenstandsbereichen, wenn möglich auch noch gleichmäßig gestreut: die wachsenden Bauten und deren ästhetische Veränderung, die verschiedenen industriellen Techniken und deren Entwicklung, eine kontinuierliche Dokumentation der Produkte, Arbeiter-, Angestellten- und Unternehmerfotografien. Doch was wir finden, sind in den allermeisten Fällen Bruchstücke, obwohl der uns interessierende Zeitraum kaum mehr als 130 Jahre zurückreicht. Oft dürften die Fotografien den Weg ins Archiv nicht gefunden haben. Dann ist manchmal viel, unregelmäßig und in manchen Firmen aber auch gar nicht fotografiert worden. Zu bestimmten Zeiten waren nur bestimmte Gegenstände von Interesse, manchmal galt es geradezu dem Banalen, und vielfach finden sich nur ästhetisch und technisch bescheidene Amateuraufnahmen. Andererseits wird weniger das Allgemeine, Alltägliche thematisiert, als vielmehr das besondere Ereignis, das Neue oder Größte. Schließlich haben noch zwei Kriege, Firmenverlagerungen und -fusionen, Konkurse, geringe Wertschätzung und schlichte Unachtsamkeit nicht zuletzt deshalb die Archivbestände vermindert, weil das Foto im Vergleich zum Schriftstück traditionell einen untergeordneten Stellenwert einnimmt. Was bleibt, ist trotz allem beachtlich. In den letzten fünf Jahren sind im Zusammenhang dieses Projekts vielleicht eine halbe Million Fotos gesichtet worden. Selbst wenn sich diese Zahl durch Dubletten, Wiederholungen, vernachlässigbare Variationen und zu geringe Qualität schnell auf ein Zehntel reduziert, bleibt eine unüberschaubare Menge zunächst einmal ungeordneter Bilder. Wie umgehen mit derartigen Massen? Wie lassen sie sich gruppieren? Wie zu einer fassbaren Publikation verdichten? Ein traditionelles Verfahren sieht vor, die ältesten, schönsten und eindrucksvollsten Fotografien herauszupicken und möglichst edel aufbereitet darzubieten. Derartige Bilderschauen haben den Vorteil, erfolgreich zu sein, weil sie nostalgische Einfühlung mittels gehobenen Kulturgutes nahelegen. Sie hinterlassen aber in der Regel das unbefriedigende Gefühl, dass die hier verhandelte Wirklichkeit doch eine andere sei. Ähnlich traditionell wäre die Methode, sämtliche Bestände nach berühmten Fotografen durch zu kämmen und eine Anthologie gesicherter Autoritäten der Fotogeschichte zusammenzustellen. Auf diese Weise würden lediglich diejenigen befriedigt, die sich gern auf schon Bekanntes stützen, wenngleich ein paar zu Unrecht vergessene Bilder aus Auftragsarbeiten die verbreitetere künstlerische Arbeit dieser Fotografen in ein anderes Licht stellen könnten. Eine weitere Möglichkeit ist es, anhand vorgefertigter Fragen oder Schwerpunkte mit den Fotografien das zu veranschaulichen, was man aus anderen Quellen über deren Gegenstände weiß. Es ist ja nicht so, dass wir über die Ruhrgebietsindustrie ohne die Fotografien in deren Archiven nichts wüssten. Nur haben solche Projekte, bei denen Fotografien rein illustrativ verwandt werden, den Nachteil, an den Besonderheiten des benutzten Bildmaterials vorbeizugehen. Zudem schaffen sie Disproportionen von Material und Deutungsarbeit, weil erstens die Fotos selten unser Wissen über die von ihnen gezeigte Wirklichkeit einholen können, zweitens dieses Wissen in langatmigen Texten aktualisiert werden müsste, wir drittens nur bestätigten, was bereits vorher gewusst wird, und damit viertens die Bildwirklichkeit und der mediale Kontext der Fotografien verdrängt blieben. Schließlich noch könnten die Fotografien nach den Archiven gruppiert werden, aus denen sie stammen. So ließe sich möglicherweise ein Zusammenhang zwischen Firmengröße, Branche oder Eigentumsform und fotografischer Praxis eines Unternehmens feststellen. Allerdings wäre dieses Herangehen äußerst zufallsanfällig, und ein plausibles Auswahlkriterium wäre damit auch noch nicht gegeben. Nun hatte ich das Glück, recht lange mit den gesichteten Beständen arbeiten und sie mir auf Mikrofiche immer wieder vergegenwärtigen zu können. So konnte ich mein Vorwissen angesichts der Fundstücke umarbeiten, erproben, verschieben, konkretisieren und zergliedern. Auf diese Weise ergaben sich die ThemenSchwerpunkte dieser Untersuchung erst aus der Spezifik des Materials selbst. Ausgangspunkt war beispielsweise nicht die vorgefertigte Frage, wie sich aus der Fülle der Fotografien die Veränderungen der Arbeitsplätze darstellen ließen, eine Frage, die zu beantworten ich dann durchzuhalten gezwungen wäre, unabhängig davon, ob das Material schlüssige Belege enthielte oder sich als unergiebig erwiese. Vielmehr ging ich von der Feststellung aus: sieh da, zu Beginn der 1930er Jahre wird die Arbeitsplatzsituation verstärkt zu einem fotografischen Thema. Was bedeutet das? Welche Interessen artikulieren sich hier? Warum so? Welche fototechnischen, sozialpolitischen oder Verwertungsbedingungen kommen ins Spiel? – So entstanden Leitlinien, um die sich die Themen dieser Publikation gruppieren. Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen der Bilder wird erkennbar, dass die Praxis der Industriefotografie weniger die Spezifik und Entwicklung ihres Gegenstands darstellt, als vielmehr sich selbst, ihre bildnerischen Möglichkeiten, Regeln und Grenzen entpuppt. Wenn wir also feststellen, dass die Gesamtansicht der Maschinenhalle, das Produkt mit Arbeiter, der Besuch von Prominenz oder die sanitären Einrichtungen bevorzugte Themen der Industriefotografie sind, so deuten die visuellen Eigenheiten dieser Themen auf eine Affinität zur Fotografie und erklären damit vor allem anderen die Gesetze nicht der Industrie, sondern der Industriefotografie (vgl. Michel Foucault: Absage an Sartre (1966) und: Archäologie des Wissens (1969)). Die letztendliche Auswahl der verwendeten Fotografien erfolgte danach, wie treffend sie – pars pro toto – ein Thema oder eine Sehweise belegen, wie aufschlussreich sie einen Zusammenhang herstellen oder wie repräsentativ sie für einen Zeitabschnitt stehen können. Insofern verweisen fast alle abgebildeten Fotografien auf einen sie als Einzelbilder überschreitenden Zusammenhang. Dass hierbei auch die bildnerische Qualität eine Rolle spielt, kann und soll nicht geleugnet werden. Mit dieser Methode soll einerseits der spezifisch industriellen Anwendung der Fotografie Rechnung getragen und andererseits versucht werden, das Interesse von einer zu kurz greifenden, ja nur scheinbar unmittelbaren Betrachtung der fotografierten Gegenstände auf den noch recht unbekannten Gegenstand "Industriefotografie" zu lenken. |