1987-92 | Reinhard Matz Vergegenwärtigen / Die unsichtbaren Lager Projekttagebuch. Beobachtungen, Notizen (Auszüge) |
Terezin/Theresienstadt, 15. Sept. 1987
Der große, neue Parkplatz für Busse und PKW machte mich stutzig, die Postkarten und kleinen Leporellos brachten es zur Gewißheit: Die ehemaligen Konzentrationslager werden zunehmend zur Touristenattraktion. Hier bereits in recht ausgeprägter Form, mit Kasse, Besichtigungsroute, Museum, Buffet und Souvenirladen. Vielleicht sollte ich mein Projekt zu einem "Reiseführer durch die Nazi-Konzentrationslager" ausarbeiten. Was hier auffällt, ist die grundlegende Restaurierung der gesamten Anlage. "Arbeit macht frei" wirkt frisch aufgetragen wie eine heutige Behauptung. Der gesamte Hof IV, in dessen Zellen mehrere tausend Menschen zusammengepfercht waren, einschließlich Erschießungsstelle mit erhaltenen (?) Einschußlöchern ist in mildem Beige gehalten. Bitte nicht zu grell! Draußen warm, ist es in den frisch gekalkten Zellen angenehm kühl. So sind gute Ferienhäuser im Süden angelegt. Überhaupt, alles ist betriebsbereit ... Lauter falsche Effekte. Aber soll man alles verkommen lassen, nur um den falschen Blick auf die originalen Objekte in falschem Gewand zu vermeiden? Ist denn alles nur eine Frage der Qualität des Blicks in diese Vergangenheit? Und welcher Art müßte er sein: ein angemessener Blick? Esterwegen, 24. Aug. 87 Statt einer Gedenkstätte ist auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers heute ein Bundeswehrdepot angesiedelt. Die gleiche Barackenform, Drahtzaun mit dreifachem Stacheldraht drumherum, selbst ein Schornstein gleich hinter dem Eingang hat exakt die Form wie die der damaligen Krematorien. Warum nur hat man die ursprüngliche Bebauung erst abgerissen? Warum überhaupt diese instinktlose Nähe von Gedenkstätte und Militär?: in Sachenhausen, Bergen-Belsen, Ravensbrück gleich angrenzend, hier (Nachtrag: wie in s‘Hertogenbosch) unmittelbar drauf. Westerborg, gleichen Tags Es ist mir peinlich auf Deutsch nach dem Weg zum ehemaligen Konzentrationslager fragen zu müssen; so als fragte ich nach dem nächsten Restaurant oder einer Toilette. Der Postbeamte wußte mir sachlich und freundlich den noch 15 Kilometer langen Weg zu weisen. Das Mädchen am Campingplatz kurz vor der Gedenkstätte reagierte unsicher. 22. Okt. 1987 Ein paar Passagen in Shoah gelesen, das mir als Buch einen stärkeren Eindruck macht als die endlosen, bohrenden, aber doch flüchtigen Filmbilder. Werden meine Standbilder denn stark genug sein? Wie sie stark machen, ohne reißerisch zu werden? Größere Inhaltlichkeit oder Formfrage? Unbedingt letzteres. Nur darf es nicht expressiv werden, und keine bemühten Bilderfindungen. Trotzdem intensiver suchen! Es geht alles zu flott ... Glaube, die einzige Chance liegt in der weitestgehenden Banalisierung der Fotografierweise, um die Kluft zum grauenhaften Geschehen so groß wie möglich zu halten. Neuengamme, 19. Dez. 1987 Zum Nachfotografieren hier fühle ich mich bereits heimisch. Als ich allein im Dokumentenhaus bin, weil die Aufsichtsperson gerade einmal rausgegangen ist, verschiebe ich das riesige Lagermodell für ein geplantes Foto und stoße dabei an mein labil aufgestelltes Stativ mit aufgeschraubter Kamera. Nach winzigem Zögern verhindert nur ein Hechtsprung quer über das Modell sein Umfallen mit sicherer Beschädigung des Apparats. – Die Versachlichung durch aktuelle ›Notwendigkeiten‹ kennt keine Tabus. Gedenken, Trauer und repräsentative Gesten sind Sache der Kultur, nicht der Produktion. Der damalige Lagereingang ist heute Zufahrt der Vollzugsanstalt Vierlande. Beim Versuch diese Ambivalenz zu fotografieren droht mir der Pförtner vor der zweiten Belichtung mit Filmabnahme. Ich war tatsächlich mal schneller. Jan. 1988, Lektüre Eugen Kogon: Der SS-Staat. "Die Vergasungsanlage [in Birkenau] war einfach und doch raffiniert. Die Einrichtung sah wie ein Bad aus und wurde von den Opfern auch als solches bezeichnet. In einem Auskleideraum stand in den europäischen Hauptsprachen angeschrieben, dass man die Kleider geordnet hinlegen und die Schuhe zusammenbinden solle, damit sie nicht verlorengingen; nach dem Bad werde es heißen Kaffee geben." (S.185, Taschenbuchausgabe) - Wenn heute in Mitteleuropa sich ein GAU oder sonst eine Umweltkatastrophe ereignen sollte, wäre die Informationspolitik keine andere. Ravensbrück, 1. Juni 1988 "Na, haben Sie schöne Motive gefunden?", fragt mich der gediegene Direktor der Gedenkstätte, als er mich vor dem ehemaligen Krematorium ein zweites Mal trifft, nachdem er mir zuvor das Fotografieren innerhalb des Museums pflichtgemäß verboten hatte. "Na ja, schöne nicht gerade", erwidere ich, und er ist tatsächlich irritiert. Ein Opfer seiner langjährigen Tätigkeit. Flossenbürg, 5. Sept. 1988 Das Miniaturmodell des Lagers, für das im letzten Jahr nur der leere Glaskasten zu besichtigen war, ist jetzt fertig installiert. Es wird also noch heute an der möglichst korrekten Darstellung des Grauens gebastelt und korrigiert, neuen Erkenntnissen und Weltanschauungen angepaßt, designed... Das Wetter ist heute trüb, fast neblig. jedenfalls ganz anders als vor einem Jahr. Es werden also eher neue Aufnahmen als nachgebesserte. Die alten Betonpfähle mit Elektroisolierungen grenzten das Lager nach innen ein. Der neue Maschendraht, der sie verbindet, schützt die Gedenkstätte gegen außen. Fortschritt, Sinnbild, Überinterpretation? Junge Bäume und Einfamilienhäuser dort, wo damals die Häflingsbaracken standen . Außer dem zentralen Eingangsbau (heute ein Wohnhaus, links neben dem Tor zur "Gedächtnisallee", ohne Hinweis auf seine ursprüngliche Funktion) ist noch das Casino der SS in einem Zustand erhalten, der die seinerzeitige Geselligkeit vorstellbar macht. Angenehm muss es gewesen sein, nach getaner Arbeit auf der Terrasse zu sitzen, rechts vor der untergehenden Sonne der Schloßberg mit seiner Ruine, links die Möglichkeit zu einem kontrollierenden Blick, ob alles ruhig ist. Da ließ sich wohl in der Runde der Kumpanen ein Rest Gewissen verklären, wer weiß, vielleicht sogar mit Damenbesuch oder Familie. Seit den 50er Jahren ist dort ein erstaunlich großer gastronomischer Betrieb untergebracht. Spaziergang durch die Siedlung. Die heutige "Sudetenstraße" markiert die Grenze zwischen den ehemaligen Bewacher- und Bewachtenbaracken, das läßt sich relativ leicht rekonstruieren. "Egerlandstraße" und "Schlesierweg" laufen quer. Ist es eine Täuschung, dass hier die Zierpflanzen ganz besonders blühen? Die Normalität, forciert oder nicht, wirkt auf den Fremden, der aus historischen Gründen kommt, erschlagend. Mauthausen, Steinbruch, 8. Sept. 1989 Es ist vollkommen still an diesem sonnigen Morgen. Warte auf das richtige Licht für die Todesstiege. Übersteigert das 85mm-Objektiv die Steilheit zu sehr? Wieweit lasse ich mich auf subjektive, bildimmanente Effekte ein? Läßt andererseits die Normalansicht überhaupt einen Wirkungszusammenhang erkennen oder macht ihn zumindest sichtbar? Buchenwald, 27. Aug. 1989 16.20 Uhr. Die Aufseherin im Lagermuseum möchte schließen (Der Eingang wurde bereits um 16 Uhr verschlossen, 16.30 Uhr ist die offizielle Schließzeit). Freundlich lachend trifft sie mich in der Rekonstruktion einer Schlafbaracke: "Ein bequemes Bett kann ich Ihnen hier leider nicht anbieten, deshalb muß ich Sie rausschmeißen!" (Natürlich auf thüringisch) Und warum ist hier der geschmiedete Spruch des Eingangstors "JEDEM DAS SEINE" von innen, sonst von außen zu lesen? Lublin-Majdanek, 18. Sept. 1989 Nach zweieinhalb Reisetagen ostwärts mit Sigurd hier angekommen. Erster Eindruck des zweitgrößten Konzentrationslagers: hier muß wirklich alles um einiges größer gewesen sein, die Vernichtung wohl entsprechend rigoros. An einem Tag, am 3. November 1943, wurden hier 18.000 Juden auf grauenhafte Weise erschossen ... Wieder fallen mir die gelungenen, weil sinnfälligen Gestaltungen der Polen auf: Häuser am Wegrand, Buchtypografien in Warschauer Schaufenstern, hier die Mahnmale. Ja, auch sie. Endlich keine phallische Aufrichtung, sondern Schwere, Last, Bürde. Kein leichter, weil symbolisch-ästhetisch nachträglicher Sieg der Gegenmacht, sondern Bewußtsein eines Erbes, das nur Trauer, keine Bewältigung zuläßt. Monumental, gewiß, aber dem Unvorstellbaren doch angemessen: Eine riesige Betonmuschel schützt Erde mit Asche der im angrenzenden Krematorium Verbrannten und nebenan Verscharrten: ein unglaublicher, rund aufgeschichteter Aschehügel in anthrazitfarbenen Marmorplatten gefaßt. Was besagt schon die Angabe: "820.000 Paar Schuhe wurden in den Magazinen von Majdanek gefunden." 820.000! Viel. Aber nicht einmal eine Million, jene Größe, in der wir gewohnt sind, noch faßbare Mengen zu denken: Länderbevölkerung, individuellen Reichtum, Computerkapazitäten ... Jedoch aufgeschichtet, und aneinandergereiht, konkret vorgeführt, drei Baracken voll, verschlägt es einem den Atem. Immer wieder erstaunlich und bewunderswert die Sachlichkeit der Berichte, der Tafeln, der Stimmen, zum Beispiel von den offiziellen Gedenkstättenführern, zum Beispiel auch im Film von 1960. Schlußsatz: "Heute, nach 16 Jahren fühlen wir uns verpflichtet, diese Bilder erneut zu zeigen." Keine gehobene Stimme, kein Nie-wieder-Pathos, kein musikalisches Crescendo. Schlichtheit, offenbar getragen von dem Empfinden, daß diese Wirklichkeit keiner Beschwörung bedarf. Belzec, 24. Sept. 1989 Enttäuschend, eine ziemlich verwahrloste Gedenkstätte ohne jede Anschaulichkeit. – Auch in Sobibor sind die Ereignisse (250.000 Ermordete) nicht lokalisierbar. Die SS hat das Lager nach dem Aufstand vom 14. Oktober 1943 geschleift und dort junge Kiefern gepflanzt. Aber immerhin ein eindrucksvoller Aschehügel mit Vitrine und drei, vier menschlichen Knochen (neben der unvermeidlichen Kunst). Hier nun wurden "600.000 Juden und 1.500 Polen" ermordet. Und nichts ist zu identifizieren außer einem Fundament, das auf einen Wachturm schließen läßt. Der Lageplan am Tor zur Gedenkstätte ist nicht mit der Lokalität zusammenzubringen. Wo war was? Kein Hinweis. Aber kommt es tatsächlich auf die eindeutige Verortung des Grauens an? Wozu die Konkretion der Oberfläche? Sie erzeugt doch immer nur den Gruseleffekt des Hier, genau hier. Oder wirkt vielleicht gerade der erkenntnismotivierend? – Die Enttäuschung ist jedenfalls die des Fotografen. Ankunft in Oswiecim/Auschwitz, 29. Sept. 1989 Heute war der erste dunkle und regnerische Tag unserer Reise. Die Ankunft, abends um halb sechs, gerade zur rechten Zeit: Dämmerung, Nebel steigt auf. Und seit gestern wird es kalt. Um sechs ist finsterste Nacht. Obgleich als Westler von Osten kommend empfinde ich mich am Ende der Welt. Im Hotel auf dem Lagergelände, das seinerzeit als "Aufnahmegebäude" gebaut wurde, bekommen wir ein ungeheiztes Zimmer ohne Dusche; Toilette auf dem Flur, über den Stimmen durch die ungedämpfte Tür schallen. Nach einem kurzen Rundgang durch den Ort bin ich zum ersten Mal froh, nicht alleine zu reisen. Ich erinnere keine Stadt, die dunkler wäre. Der Stadtplan verzeichnet fünf Restaurants. Im vierten bekommen wir kurz nach acht gerade noch etwas zu essen, etwas und gerade noch. Außer uns sind nur zwei, drei Betrunkene in dem großen Gastraum hier. Die Atmosphäre trist zu nennen, wäre beschönigend. Es ist eine Trostlosigkeit von grundsätzlicherer Härte. Natürlich frage ich mich immer wieder, ob es der lebendige Eindruck ist, der da wirkt, oder das Bild, die Vorstellung, der zum Symbol geronnene Ortsname. Vermutlich ist es beides, und es verstärkt sich gegenseitig. 30. Sept. Am Tage tummeln sich hier die Besuchergruppen; im Schnellgang durchs Museum, das hier mit dem Häftlingsgelände des Stammlagers identisch ist. Die Mehrzahl der Länderpräsentationen werden bereits ausgelassen. Nach halb vier, vier war ich dann allein im Lager. Buchstäblich: kein Wärter, kein Besucher störte meine Fotoarbeit. Unheimlich, zumal es bald dunkel wurde. Als ich um sieben auf dem schnellsten Wege raus wollte, war das Tor mit einem riesigen Vorhängeschloß zugesperrt. Gefangen in Auschwitz I ? Gott sei Dank besann ich mich, dass am hinteren Ausgang kein Tor war. Dort steht tatsächlich alles offen. Das finde ich nun allerdings auch merkwürdig... 3. Okt. Vieles an Haltungen ist hier organisiert. Man merkt es an den mitgebrachten Kameras, die sie festhalten. Eine rührend provinzielle Fünfergruppe auf dem Weg zur Erschießungsstelle: ein Junge mit Blumenstrauß, einer mit Krawatte, ein Helfer mit Fotoapparat. Oder die an diesem Ort grotesk wirkende Westgruppe im Freizeitlook, die mit Erdwerkzeugen einen winzigen Rasenstreifen bearbeitet, festgehalten mit Video. Brzezinka/Birkenau, 4. Okt. 1989 Vier Arbeiter sitzen auf der Rampe und frühstücken, Denkmalspfleger. Die Rampe ist heute von Gras überwuchert, das es zu mähen gilt. An diesem Ort wird alles verkehrt. Es gibt kein angemessenes Verhalten für millionenfachen Mord. Rogoznica/Gross-Rosen, 5. Okt. 1989 Nach Auschwitz wirkt dieses Lager geradezu idyllisch, zumal in der Abendsonne, als wir hier nach einem strahlenden Reisetag ankamen ... Zweifel nach folgender Beobachtung: Im sehr detaillierten Lagermodell steht der Galgen weit hinten, gleich neben dem Krematorium (Praktikabilität kurzer Wege). Auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte steht er vor dem Appellplatz in der Nähe des Eingangs (Plausibilität der Abschreckungslogik). Aber wo stand er wirklich? An beiden Plätzen? Das Modell, dessen feine Ausführung die Geschehnisse doch besonders nahe bringen soll, und der Realeindruck beeinträchtigen sich gegenseitig: Der Augenschein vor Ort straft das Modell Lügen, und das Modell beschuldigt die vorfindliche Realität der nachträglichen Inszenierung. Nov./Dez. 1989 Wieviele Karrieren und Identitäten die KZ begründen!: Museums- und Gedenkstättendirektoren, Historiker, Publizisten, Juristen, Journalisten, Künstler, Fotografen, Filmmacher, Redakteure, Verleger, Ausstellungsmacher, Vortragsreisende ... Und natürlich haben sie alle das Herz am rechten Fleck, antifaschistisch, ist doch klar, gegen das große Vergessen. Henryk M. Broders Zynismus liegt völlig richtig: "Letztes Jahr war ich zu einem Symposion in L.A. eingeladen, dieses Jahr bin ich in Toronto, und nächstes Jahr wird das deutsch-jüdische Dilemma auf einer Konferenz in Melbourne besprochen werden. Mir soll es recht sein. Ich reise gern." (TAZ 25.11.89) Einen Monat später. Gerhard bringt die Arbeit auf einen brutalen Nenner: ich bewege mich mit ihr an einem lukrativen Schnittpunkt von Moral und Markt. Er meint das wohl nicht einmal unbedingt verwerflich. Trotzdem hat es etwas Widerliches, schlechtes Gewissen zu bewirtschaften. Aber wie da raus kommen, ohne das Thema fallenzulassen? "Welches der Worte du sprichst, du dankst dem Verderben." (Paul Celan) 17. Juni 1990 Was ‘interessiert’ uns an Auschwitz, Hiroschima, Stalingrad, jenseits der Moral eigentlich? Was hält uns ‘dabei’? Vielleicht dienen die Orte 50 Jahre später als Kiel, als Senkblei unseres Bewußtseins, um uns nicht im Allerlei des beliebigen Konsums zu verlieren, als ein definitiver Punkt gegen die drohende Orientierungslosigkeit des Tages. In der Dunkelkammer beim Vergrößern einiger KZ-Bilder höre ich Johann Strauß-Walzer in einer Aufnahme von Lorin Maazel. 9. Aug. 1990 Es geht nicht (mehr) um Vergessen oder nicht Vergessen, sondern um die Form des Erinnerns. Natzwiller/Natzweiler, 18. August 1990 Am Sonntag Nachmittag fühlt man sich auf dem Parkplatz und im Museum der Gedenkstätte an ein Volksfest erinnert. Lauter bunt angezogene Menschen ziehen umher; Individualbesucher, keine Gruppen. Alle 15 Minuten füllt sich das Museum allmählich auf. Dann ertönt ein durchdringender Lautsprecher, der die Besucher energisch zur Besichtigung des Geländes auffordert, – man könne später nochmal ins Museum zurück. So drängen sich 200 bis 300 Menschen auf einen Weg, der durch einen hohen Stacheldrahtzaun eingefaßt ist, und warten darauf, durch ein ebenfalls mit Stacheldraht bewehrtes Tor auf das Camp gelassen zu werden ... Das Betreten der rot aufgeschotterten Barackenfundamente ist verboten. Die Führer – alle in blauem Anzug – führen nicht ohne Pathos und Schweigeminute; routinierte Ergriffenheit, wie ich sie in polnischen Gedenkstätten nicht feststellen konnte und die erst umkippt, wenn am Ausgang mit Münzen geklimpert wird, damit das gehörige Trinkgeld nicht vergessen wird. Sztutowo/Stutthof, 19. Sept. 1991 Nach der Ankunft kaum ein Rundgang durchs Lager, erstmal zwei, drei Kilometer durch Wald und Dünen ans Meer... Unterkunft in einem Gästezimmer der ehemaligen Kommandantur, die auch die heutige Museumsverwaltung beherbergt; ursprünglich übrigens ein Altersheim. Ich merke, die Fotoarbeit neigt sich zum Ende. Das Staunen ist weg, kaum noch Entdeckungen, die Themenfelder sind abgesteckt. Die Arbeit beginnt sich zu wiederholen und langweilt. Jetzt bedarf es wieder jener Mannschen "produktionsethischen Bravheit". Zum Nachfotografieren in Ravensbrück, 17. Sept. 1991 Im ehemaligen Krematorium hängen jetzt den Öfen gegenüber zwei Feuerlöscher. Nach aller Durchdringung von Bildern, Kunst und Leben nehmen wir das heute, zumal an einem musealen Ort, als Inszenierung wahr. So wird der Ort unwillkürlich komisch. Dass dann ein Neunmalkluger "Zur Hölle" mit Pfeil in Richtung der Öfen in die frisch gekalkte Wand ritzt, liegt auf der gleichen Ebene. 18. Oktober 1990 Als Diavortrag in der Universität Bochum zeige ich das Projekt zum ersten Mal öffentlich. Ich werde in diesem Rohbetonbau als kühl und analytisch vorgestellt. Laut Ankündigung findet die Veranstaltung im Rahmen eines Symposiums im musischen Zentrum statt. Am Ende findet sich niemand, mich zum Essen zu begleiten. Ruhrgebietskultur. s‘Hertogenbosch/Herzogenbusch-Vught, 29.Januar 1991 Wie können wir an die Wirklichkeit der Lager überhaupt noch herankommen? Dieses Hotel hier, ein Musterbeispiel heutigen Konsumgeplätschers, etwa zwei Kilometer vom Lager entfernt, macht die Diskrepanz geradezu schlaglichtartig deutlich: allenthalben Plastikbegrünung, nicht abstellbare Hintergrundmusik in allen Gemeinschaftsbereichen (die einem spätestens nach zwei Tagen ungemein auf den Senkel geht), im Foyer ein künstliches Holzkohlenfeuer mit beigestellten, echten Holzscheiten, Videoclips in der Sauna und ein ausgestellter Weinkeller mit Kunstfruchtstilleben im Eingangsbereich des Restaurants ... Ich meine, wir können doch nicht einmal mehr wütend sein. Wo nicht gelitten wird, ist auch keine Leidenschaft. 31.1.1991 Bilderdenken: Was geht und was geht nicht? Was geht in welchem Kontext und in welchem Medium? Welches Medium produziert welchen Effekt? 1. Ich erklettere die Bretterinstallation, die die Vielzahl der Betten in einer Baracke andeutet. a) In der Wirklichkeit ein Problem. Vor uneinschätzbaren Zuschauern geniert es mich; und auch Dieter, den Kameramann, der mich bei der Aktion filmen will. b) Für das fotografische Ergebnis problemlos. Dem Bild wird Aufwand und Pietätsverletzung höchstens nach reiflicher Überlegung anzusehen sein. c) Für den Film ein provokantes, die Historizität erhellendes Detail, eine gezielte Pietätsverletzung. 2. Im Krematorium lege ich meine Kamera auf den mutmaßlich originalen Seziertisch. a) In Wirklichkeit tue ich es ohne große Hemmnisse, um einen Effekt probehalber zu veranschaulichen. b) Als Fotografie würde es wie eine plumpe Inszenierung wirken, aber diffus in der Bedeutung bleiben, – eine zu leichte Keckheit vielleicht. c) Im Film hätte ich dabei sicherlich nur falsche Assoziationen: Ein Tourist hat die Kamera vergessen. Oder sie wurde dort nur beiläufig von mir abgelegt und übersehen ... 5. Febr. 1991, zu Hause Wolfgang und Henry, die Filmmacher, die mich für eine Reportage auf dieser vermutlich letzten Reise begleiteten, verlangen mir Erklärungen zum Projekt ab, als seien die Bilder politische Meinungsäußerungen. Zudem sollen die Angaben für das Sonntagnachmittagsprogramm möglichst kurz und bündig sein: Absichten, prospektive Wirkungen, wozu ein solches Projekt? Ich reagiere mit Unverständnis, Widerwillen, Prüfungsangst, – glaube weder an erschöpfende Produzententheorien zur eigenen Arbeit noch an Filme, die in 30 Minuten alles durchetikettieren. Andererseits bedrückt es mich, in die Ecke des Schmollkünstlers gerückt zu werden, der sein Werk nicht durch Worte entweiht wissen möchte. Wenn es denn also schon ein Stück Selbstinterpretation sein soll: Ich denke, es geht darum, über die Konzentrationslager zeitgemäße Bilder zu liefern. Wir denken die Lager noch immer in den Bildern der SS und jenen aus der Zeit unmittelbar nach der Befreiung: Deportationen und Arbeitskolonnen, Selektionen und Erschießungen, ausgemergelte Körper und Leichenberge ... Es sind die Bilder einer unmittelbaren Betroffenheit. Aber fast 50 Jahre später haben diese Bilder mit uns und unserem Verhältnis zu den Ereignissen nichts mehr zu tun. Unsere heutigen Bilder müssen von historischem Wissen getragen sein, aber zugleich unsere geschichtliche Entfernung, unsere Abgeklärtheit und mediale Vermitteltheit artikulieren. Es ist doch einfach nicht wahr, daß wir in einer Weise von den Lagern entsetzt sind, wie es die Menschen kurz nach dem Krieg waren (z.B. die zum Besuch Buchenwalds gezwungenen Einwohner von Weimar). Wir sind doch nicht einmal mehr vom aktuell stattfindenden Golfkrieg entsetzt. Ganz wörtlich genommen: Wer von uns hält es nach wochenlanger Kriegsberichterstattung denn tatsächlich nicht mehr sitzend vor dem Fernseher aus? Das heißt nicht unbedingt, daß das Grauen der Lager in unserer Vorstellung künftig ausgeblendet bleibt. Es entspricht nur keiner unmittelbaren – oder zumindest zeitgleichen – Erfahrung mehr. Nach 50 Jahren entspringt der Schrecken allenfalls einem intellektuellen Akt der Einfühlung, er ist das Ergebnis einer Vergegenwärtigung, einer imaginären Rekonstruktion. Und das ist die Realität, der die Bilder nahezukommen haben. |