Reinhard Matz Zur Historizität von Dingen und Fotografien Textfassung eines Vortrags auf dem internationlen Symposium The Family of Man. Humanismus und Postmoderne: eine Revision von Edward Steichens legendärer Fotoausstellung an der Universität Trier am 14. Oktober 2000 |
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(hier vollständig wiedergegeben) Mary Steichen Martin / Edward Steichen: The First Picture Book. Everyday Things for Babies (Harcourt, Brace and Company, New York 1930 ) Mary Steichen Calderone / Edward Steichen / John Updike: Das erste Bilderbuch. Alltägliche Dinge für Kleinkinder (Scalo, Zürich 1991) und Reinhard Matz: Verspielt. Fotografien für Kinder. In Erinnerung an Edward Steichens The First Picture Book. Everyday Things for Babies (Edition Braus, Heidelberg 2000) 1930, genau 25 Jahre vor seiner Ausstellung "The Family of Man" veröffentlichte Edward Steichen ein Familienprojekt anderer Art. Seine damals höchstens 27jährige Tochter Mary, bereits Mutter von zwei Kindern, war unzufrieden mit dem Angebot an Bilderbüchern der Zeit. Es gäbe keine Bücher, schreibt sie, die sowohl die Wünsche ihrer Kinder wie ihre, Marys, Vorstellungen einer modernen Pädagogik in Einklang brächten. So beauftragte sie ihren Vater, den 51jährigen Großvater ihrer Kinder, Aufnahmen von Alltagsgegenständen aus dem Wahrnehmungshorizont kleiner Kinder zu machen. Es war sogar so weit gehend ein Familienprojekt, dass Tochter Mary nicht nur die Idee dazu hatte und das Vorwort zum Buch schrieb, sondern – wie mir die Erben des Steichenschen Werkes mitteilten – sogar die zu fotografierenden Gegenstände bestimmte. 1991 ist dieses Buch neu herausgegeben worden, und es hat mich derart fasziniert, dass ich mich zu einer fotografischen Bearbeitung entschloss. Die Idee, den Impetus zu dem Original von 1930, kann man heute naiv finden. "Bei den für die Abbildungen gewählten Gegenständen« heißt es in Marys Vorwort lapidar, "handelt es sich um die ersten Dinge, die jedes Kleinkind unserer Tage im Laufe seiner Entwicklung kennenlernt." (Herv. RM.) Jedes Kleinkind der damaligen Zeit? – Offenbar wird bereits in diesem Projekt als unhistorisch Allgemeines angesehen, was doch in hohem Maße historisch und spezifisch ist. Man kann also durchaus Roland Barthes Kritik an der "Family of Man" auf den Ansatz dieses früheren Projekts verlängern. Denn selbstverständlich sind es okzidental und urban sozialisierte, vermutlich Mittelschichts-Kinder, denen in einem "fortschrittlichen" New Yorker Kindergarten die Bilder vorgelegt wurden, und die im Alter von eineinhalb und aufwärts ihren Beifall gezollt haben sollen (Andreas Haus wird das gleich noch präzisieren). Eine ähnliche Verkennung trifft die Fotografien als Bilder. Nochmals aus dem Vorwort: "Dieses Buch sollte dem Kind gegeben werden, sobald es Gegenstände oder ihre Abbildungen zu erkennen vermag." Eben daher rühre "die Zufriedenheit der Kinder angesichts dieser Bilder: Es gefällt ihnen, Bekanntes wiederzuerkennen; sie empfinden dies als kleinen Triumph; das Wiedersehen mit alten Freunden ist ihnen Trost und Vergnügen zugleich." Jegliche Differenz von Bild und Gegenstand sollte offenbar weitmöglichst negiert werden: "Die meisten gemalten Bilder sind nicht nur unzulänglich, sondern allzu häufig auch beeinflußt vom Blickwinkel und der Persönlichkeit des Künstlers, und stellen insofern verfälschte Abbilder der Gegenstände dar. Aus diesem Grund wurden hier Fotografien benutzt. Der Fotograf, ein Kenner sowohl seines Mediums als auch seines Publikums, hat jedes irreführende Spiel von Licht und Schatten so weit wie möglich ausgeschlossen. Jeder Gegenstand wird so ‘objektiv’ wie irgend möglich dargestellt, auf dass keinerlei ‘Effekte’ das Kind verwirren mögen. / Das Buch soll die Erfahrungen des Kindes nicht ersetzen, sondern diese nur nachträglich unterstützen.« Am Objekt Buch wären demnach keine Erfahrungen zu machen, Fotografien wären reine, unbeeinflußte Abbilder und könnten nur Sekundärerfahrungen vermitteln. Das moderne Medium Fotografie wird offensichtlich genutzt, um den Dingen näher zu kommen, nicht um moderne Bilderfahrungen zu üben. Es sei sogar schädlich, "wenn ein Kleinkind seine erste Erfahrung mit einem Gegenstand über dessen bildliche Darstellung machen würde." (Alle Zitate von Mary Steichen Calderone aus dem Vorwort der Originalausgabe, zitiert nach dem Reprint "Das erste Bilderbuch. Alltägliche Dinge für kleine Kinder", Zürich 1991) Nun hat Steichen in seinen Lebenserinnerungen zu Protokoll gegeben, dass seine Tochter mit ihrem Buchplan für das First Picure Book zu ihm gekommen sei, "um bei ihren Kindern das Interesse an Bildern zu wecken." (E. St.: Ein Leben für die Fotografie, Wien und Düsseldorf 1965, gegenüber Abb. 209; Herv. RM.) Ich glaube aber, man sollte den rund 30 Jahre später notierten Halbsatz nicht überstrapazieren, zumal Tochter Mary das Buch mit den durchaus abweichenden Worten einzuleiten beginnt: "Als meine beiden Kinder sich für Bilder zu interessieren begannen … (When my two children reached the stage of interest in pictures)". Tatsächlich wird in diesen beiden Sätzen der beiden maßgeblichen Autoren das Interesse von Steichens Enkelkindern an Bildern zum Ausgangspunkt des Buches erklärt. Dagegen weisen sowohl dessen Untertitel "Alltägliche Dinge für Kleinkinder" (Herv. RM.) wie auch die Textumfelder der Zitate darauf hin, dass aus diesem kindlichen Interesse an Bildern keine Überlegungen für die Herstellung und Interpretation der Fotografien oder die an sie anknüpfende Pädagogik abgeleitet wurden. Im Gegenteil. Fast scheint es, das Interesse an Bildern selbst solle zurückgedrängt werden zu Gunsten ergänzender Erfahrungen der Gegenstände durch Bilder. – Das überrascht freilich bei einem Fotografen, der wie wenige seiner Zeit die Selbständigkeit des Mediums behauptet und bis an seine Grenzen ausgelotet hat. In seinen Lebenserinnerungen schildert Edward Steichen den Fall einer immer wieder erstaunlichen Bildverkennung. Ich vermute: wohl als Beweis einer gelungenen Engführung von Gegenstand und Bild, als Beleg seiner fotografischen Fähigkeiten. Zu dem Foto des Waschbeckens mit Seife und Zahnbürste teilt er uns mit: "Kurz nachdem das Buch erschienen war, schrieb uns eine Mutter, ihr Kind habe beim Anblick des Bildes nach der Bürste gegriffen und die Gebärde des Zähneputzens gemacht. Damit fertig, habe es in die Waschschüssel auf dem Foto gespuckt." – Werden Gegenstände im Bild schlicht wiedererkannt, gewissermaßen 1:1, unterschiedslos zu ihrer realen Existenz, wird der Gegenstand Bild verkannt. Nach Louis Althusser ist dies die Grundstruktur der Ideologie: Das anerkennende Wiedererkennen von Vertrautem, das gerade dadurch in seiner Besonderheit verkannt wird. Die Filmemacher Hartmut Bitomsky und Harun Farocki haben für diese Verkennung ein schönes Bild geprägt: Man glaubt, aus dem Fenster zu schauen und sieht in ein Schaufenster. Ich möchte hier aber weniger die Ideologiekritik am Steichenschen Werk vertiefen, als vielmehr das Augenmerk auf das Staunen lenken, das am Beginn meines Projekts stand, das First Picture Book Steichens zu bearbeiten. Ich glaube tatsächlich, dass Staunen der Ausgangspunkt von sehr vielem ist, seien es künstlerische Projekte, wissenschaftliche Forschungsfelder oder philosophische Kontruktionen. Da ist etwas, das mich anspricht. Genauer gesagt, da ist etwas, das etwas in mir anspricht, das mich fasziniert, mich also bindet und zugleich blendet, das mein Interesse weckt, mich also an etwas teilhaben lässt. Etwas, von dem ich noch nicht genau weiß, was es ist, etwas das ich nicht begreifen, nicht gleich fassen kann, das mich aber hinlänglich berührt, so dass ich blickend erstarre, sich etwas in mir staut – denn das ist die etymologische Ableitung des Begriffs Staunen. Was also ließ mich derart erstaunen, dass ich daraus ein Projekt machte, das mich immerhin über einige Jahre immer wieder beschäftigte? Ein äußerlicher Punkt, ohne den ich dieses Projekt sicherlich nicht angefangen hätte, ist schnell erwähnt: ich war etwa fünf Jahre bevor ich den Reprint des Steichen-Buches in die Hände bekam, selbst Vater geworden. In meiner Wohnung stapelte sich daher dieser ganze mehr oder weniger pädagogisch wertvolle Krempel, der die ersten Welterfahrungen meiner Tochter anregen sollte. Ohne meine Tochter gäbe es diese Arbeit nicht, und aus diesem Grund habe ich Ihr das Buch gewidmet. Es muss im Frühjahr 1994 gewesen sein, dass ich die so liebevoll ausgestattete Neuausgabe des First Picture Books vom Züricher Scalo-Verlag in den Händen hielt. Ich durchblätterte das Buch im Laden und konnte den Zeitsprung nicht fassen: Das Buch zeigt eine Welt, die mir fast archetypisch vertraut ist, aber doch auch vollkommen fremd, historisch, aus meiner Lebensperspektive unübersehbar vorzeitig: in unglaublich reduzierten Bildern eben die Kinderwelt von 1930. Aber diese so deutlich historischen Bilder erscheinen in einem Buch von 1991, Papierqualität und drucktechnisch hoch modern, jedoch in einem Retro-Design gestaltet, das nun wieder versucht, die Zeit von 1930 zu imitieren: Die Schrift beispielsweise ist durchgehend aus der Walbaum gesetzt. Das ist eine klar strukturierte klassizistische Schrift von 1800. Sie gilt als die etwas biedere deutsche Variante zur Bodoni, die hier mit einer gewissen Gemütlichkeit auf 1930 verweisen soll. – Jahre später, nachdem ich es in Europa über Fernleihe vergeblich versucht hatte, bekam ich im New Yorker Whitney Museum of American Art ein Exemplar des Originalbuches in die Hände. Die Größe war die gleiche (18x21 cm) die 24 Bilder waren in der gleichen Reihenfolge und ebenso abfallend wiedergegeben, aber der bildlose Umschlag war ohne weitere Zutaten mit einer Abart der Futura gestaltet worden, einer damals ausgesprochen modernen Schrift, die Paul Renner gerade zwei Jahre zuvor in Deutschland für die Bauersche Schriftgießerei entworfen hatte. Die Schrift wird in ihrer Schnörkellosigkeit auch heute noch gerne benutzt, und war für die Neufassung von 1991 offenbar noch als zu frisch angesehen worden. Denn aus dem modern gedachten Buch von 1930 war in sechs Jahrzehnten ein Nostalgieprodukt geworden, ein Beitrag zur "Erinnerungskultur" der 90er Jahre, zu dem der Schriftsteller John Updike (Jahrgang 1932) einen Text beisteuerte, der genau diesen Wechsel in aller Deutlichkeit belegt. Exkurs: Es ist weitgehend unbekannt, dass es von den gleichen Autoren auch noch "The Second Picture Book" gab, das in New York 1931 im selben Verlag erschien. Es hat die gleiche Größe und umfasst wiederum 24 Fotografien, aber die Dinge werden nicht als starre Stilleben präsentiert, sondern in Ihrem Gebrauch durch verschiedene Kinder. Zum Teil finden wir Objekte des ersten Buches wieder, meistens sind es jedoch Dinge eines bereits erweiterten kindlichen Lebensraums. Übrigens verfügt das Whitney-Museum noch über je eine andere Einbandfassung der beiden Bücher. Es handelt sich soweit ersichtlich nicht um eine zweite Auflage, sondern lediglich um einen anderen, vermutlich späteren Einband. Offenbar war der ursprüngliche Umschlag zu dezent gehalten und das Produkt nicht schnell genug als Kinderbuch zu identifizieren. Die Schrift wurde jetzt fett, rot und ziemlich plump auf eines der schwarz/weißen Fotos aus dem Inhalt gesetzt. – Merkwürdig für uns heute mutet es an, dass der inzwischen weltberühmte Fotograf der insgesamt zweimal 24 Bilder zwar auf den Titelseiten im Buchinnern genannt wird, die Umschläge aber jeweils nur die Autorin der knappen Vorworte erwähnen. Es war wohl tatsächlich im Wesentlichen ihr Projekt … Zurück zur Situation im Buchladen. Es geht bei 61 Jahren zwischen den Buchveröffentlichungen, wiewohl nicht einmal zwei Drittel eines Jahrhunderts, um weltgeschichtliche, sozialgeschichtliche, lebensgeschichtliche, aber auch pädagogikgeschichtliche, fotogeschichtliche, designgeschichtliche Zeitsprünge, deren Weite mich immer wieder überrascht, deren beide Seiten in der aktuellen Betrachtung aber zusammenfallen, kurzgeschlossen werden, mich bestürmen und erstarren lassen, – um noch einmal mein Staunen zu begründen. Denn dass wir es heute mit einer vollkommen anderen Welt zu tun haben, dass das Zeug zum Spielen im Kinderzimmer meiner Tochter anders aussieht, anders funktioniert, anders erzieht als jenes in Steichens Bildern, das war mir spontan überdeutlich und motivierte mich zu meiner Bearbeitung, die dann als Buch im Jahr 2000 in der Edition Braus erschien. Natürlich muss das naive Staunen irgendwann ein Ende haben, muss in Reflexion und konzeptionelle Arbeit übergehen, um ein fotografisches Projekt zu werden. Zunächst glaubte ich an eine Bearbeitung, die den erzieherischen Ernst der Steichen-Bilder aufnehmen könnte. Tatsächlich dachte ich zunächst anhand kindlicher Gegenstände ein Foto-Bilder-Lehrbuch zu entwerfen. Natürliche und gestellte Objekte sollten sich mischen, verschiedene Formen der Fotografie sollten durchgespielt werden: Life-Szenen, Sachaufnahmen, Portraits; perspektivische Irritationen, Schärfe/Unschärfe-Wirkungen … Aber die konzipierten Aufnahmen ergaben keinen sinnfälligen Zusammenhalt, folgten keiner prägenden Form, ergaben keinen gemeinsamen Klang, es entstand keine Stimmung, die den Zeitsprung auf den Punkt gebracht hätte. Es schien mir alles etwas langweilig. So blieb ich, auch im Sinne einer größeren Bearbeitungsstrenge, bei den Objekten im Studio, denn die, fand ich, waren in ihrer zeitgeschichtlichen Prägnanz deutlich und erstaunlich genug. Ich fragte mich, wie all diese ehrwürdigen Objekte wohl in ihrer heutigen Erscheinung aussähen, und konzipierte zu jedem Steichen-Bild ein Pendant mit Objekten, wie wir sie aus heutigen Spielzeugmagazinen und Supermärkten kennen. Schnell wurde mir jedoch klar, dass es nicht reichen konnte, die alten Dinge einfach durch neue zu ersetzen: den mechanischen Wecker durch einen elektrischen beispielsweise, die Stele eines Fernsprechers aus der telekommunikativen Frühzeit durch ein handliches Mobiltelefon etc. Teils haben sich die Gegenstände nicht einmal so sehr verändert: Bälle sind immer noch Bälle, Bücher bleiben Bücher. Oder wie hätte ich etwa das wunderschöne, schlichte Bild der Blumen in der Kugelvase ›modernisieren‹ können? Die Veränderungen der vergangenen 60, 70 Jahre stecken nur oberflächlich in den Erscheinungsweisen der Gegenstände. Wichtiger und ergiebiger schien mir, an ihnen unseren veränderten Umgang mit den Dingen zu reflektieren. Die Beliebigkeit heutiger Variabilität, in der ich einen sehr prägenden Zug unserer Zeit sehe, glaubte ich, anhand der kindlichen Objekte gut zeigen zu können: Mit den über 50 emotionalen Bezugsobjekten beispielsweise, mit denen meine Tochter eine Zeit lang liebte, ins Bett zu gehen. Mit dem Triptychon der Bälle, mit dem Sammelgut von Wurfobjekten aus dem Kölner Karneval. Ganz allgemein fragte ich mich, wie verhalten wir uns zu den Dingen unserer Umgebung, zur Natur, zur Zeit, zur immer noch so genannten Dritten Welt oder zur Vergangenheit, wo haben wir unsere Grenzen, was sind unsere Wertsetzungen … Dass Spielzeuge und die Maske einer kindlichen Perspektive für derartige Fragen vorzügliche Medien sind, ist mir während der Arbeit immer klarer geworden. So wurden aus dem Zeitgeist und Design des Industriezeitalters jene des Massenkonsums und der Medienwelten. Aus Einzelobjekten wurden szenische Gruppen, aus der definitiven Formenwelt Steichens entwickelten sich Varianten, zuweilen gewannen die Dinge im Gegensatz zur Vorlage eine narrative oder, nicht zu übersehen, verblüffend oft eine anthropomorphe oder zoomorphe Dimension (aus Gegenständen werden Gegenüber, Gegenwesen) , wohlgeordnete Arrangements zerrannen in scheinbarem Chaos, das eherne Schwarzweiß wurde wie selbstverständlich farbig, und, na ja: aus dem erzieherischen Ernst wurde ein ernsthafter Spaß. Die Hintergründe wurden minimiert: schwarz oder weiß, keine Kompositionshilfen, keine Raumsimulationen und keine Tischdeckchen, die Häuslichkeit suggerieren. Neubearbeitungen historischer Stoffe sind vor allem aus der Literatur bekannt. Zahllos die verschiedenen Fassungen, die in der Neuzeit von antiken Dramen angefertigt wurden. Der Spielfilm kennt das Remake. Immer geht es darum, die historische Vorlage auf ihren heutigen Gehalt hin zu befragen, ihren unhistorischen Inhalt – oder das, was von ihm noch interessant erscheint – in eine aktuelle Form zu bringen und in der Differenz die Gegenwart um so deutlicher zu profilieren. Dieses Verfahrens habe auch ich mich in meiner Bearbeitung bedient. Im Bereich der Fotografie sind derartige Bearbeitungen freilich noch ungewöhnlich. Das spricht für die Frische, aber auch für die immer noch weitreichende Geschichtslosigkeit des Mediums. Ich glaube nicht, dass Edward Steichen eine präzise Vorstellung von der Historizität seines Buchprojekts hatte. Er zielte wohl eher auf klassische Größe und Zeitlosigkeit. Das Buch sollte modern sein, gewiss, aber das bezog sich offenbar eher auf das Bildmedium und die Buchgestaltung als auf die Bilder. Ich glaube nicht einmal, daß ihm das Projekt sehr wichtig war: In seinen Lebenserinnerungen widmet er dem Ersten Bilderbuch eine Abbildung und einen Absatz. Das Zweite Bilderbuch wird nicht einmal erwähnt. Über die Begründung kann man nur spekulieren. An ganz anderer Stelle, dort wo er anderen Fotografen erklärt, was sie im Krieg fotografieren sollen, findet sich eine Passage, die Steichens Interessensorientierung deutlich macht: "Das wichtigste aber: Konzentriere dich auf die Menschen. Schiffe und Flugzeuge werden eines Tages veraltet sein und überholt. Aber Menschen wird es immer geben." (Ein Leben für die Fotografie, Kap. 12, 3. Spalte) Die Historizität, die die Dinge unumgänglich ins Bild einbringen, scheint Steichens Bemühen um Überzeitlichkeit eher gestört zu haben. So dürften die fotografierten Gegenstände jedenfalls nicht in Hinblick auf Zeitspezifik ausgewählt worden sein. Marktstrategisch könnte man sagen, das Buch sollte auch Jahre später noch als neu und gültig verkauft werden können, – aber das wäre einem Klassiker gegenüber wohl etwas zu despektierlich formuliert. Ich glaube allerdings tatsächlich, in der Objektwahl und ihrer Präsentation einen Hang zum Allgemeingültigen erkennen zu können und sehe damit, wie gesagt, Züge der Family of Man bereits in diesem früheren Projekt angelegt. Ich hoffe andererseits, deutlich gemacht zu haben, dass dies genau der Punkt ist, wo ich vielleicht am nachhaltigsten mit der Vorlage gebrochen habe. Mir geht es (übrigens in all meinen Projekten, egal mit welchem Thema, anhand welcher Objekte und in welcher Technik) um eine möglichst präzise Bestimmung der Zeit, aus der die Arbeit stammt. In diesem Fall also um das ausgehende 20. Jahrhundert, das sich hier nach all seinen Fortschritten und Verfehlungen ein wenig heiter verabschiedet. Das erstaunliche allerdings ist es, daß wir gegen die Intention des Autors Steichen in seinem First Picture Book eben doch exakt die Zeit von 1930 bestimmen können, genau so, wie wir in seiner Family of Man die gedanklichen Horizonte der 1950er Jahre wiedererkennen. Auch Klassiker – oder Bemühungen um klassische Größe – sind im Nachhinein zu historisieren, selbstverständlich. Es scheint also recht gleichgültig, was ein Bilderzeuger zu seiner Arbeit meint. Visuelle Qualität entsteht anders, entsteht geradezu erst dann, wenn sie nicht in ihrer Versprachlichung zu erschöpfen ist. Und am Ende zählt nur sie. (erscheint in der geplanten Symposiums-Dokumentation) |
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